Süddeutsche Zeitung

Russische Hochspringerin Lassizkene:Die meinungsstarke Offizierin

  • Marija Lassizkene ist derzeit die beste Hochspringerin der Welt und springt dicht an den Weltrekord von 2,09 Meter heran.
  • Die Russin muss unter neutraler Flagge starten, weil ihr Verband nach wie vor wegen der Dopingenthüllungen gesperrt ist.
  • In den sozialen Netzwerken kritisiert sie die Funktionäre hart - obwohl sie selbst Oberleutnant der russischen Armee ist.

Von Johannes Knuth, Tübingen

Man muss schon sehr genau hinschauen, um es zu sehen. Vergangene Woche erst, als Marija Lassizkene in Ostrava 2,06 Meter überflog, ihre Bestleistung egalisierte, drei schlanke Zentimeter unterhalb des Hochsprung-Weltrekords: Da lächelte sie, so kurz, dass man im selben Moment schon nicht mehr wusste, ob es tatsächlich passiert war. "Das ist eben mein Gesicht im Wettkampf, mein Charakter", sagt sie, wenn man sie darauf anspricht - wie eine Maske, die sie auch nach großen Taten nicht fallen lässt, weil sie immer noch ein wenig höher springen will. Und bloß, weil sie oft so ernst schaue, "heißt das ja nicht, dass ich innerlich nicht glücklich bin", sagt sie. Oder angespannt. Oder wütend, manchmal sogar sehr wütend.

Neulich ist die Maske plötzlich gefallen. Wie bei einem Familienstreit, bei dem die lange schweigsame Cousine so sehr auf den Tisch haut, dass das Porzellangeschirr durcheinander fliegt. "Ich hoffe, dass jene Leute, die für diese nicht endende Schande verantwortlich sind, den Mut aufbringen, endlich abzutreten", schrieb die 26-Jährige in den sozialen Medien. Mit jenen Leuten meinte sie vor allem Dmitrij Schljachtin, den Präsidenten des russischen Leichtathletikverbands; sie meinte auch jene Trainer, die Athleten weiter einreden würden, dass die ganze Sportwelt doch eh dope. Seit 2015 ist Lassizkenes Verband von internationalen Wettkämpfen verbannt, wegen eines tiefwurzelnden Dopingsumpfs, den die 800-Meter-Läuferin Julija Stepanowa mit ihrem Ehemann Dimitrij freigelegt hatte. 2016 verpassten alle russischen Athleten die Olympia-Wettbewerbe - bis auf die Weitspringerin Darja Klischina. Lassizkene saß damals zu Hause, sie schaute nicht zu, als die Spanierin Ruth Beita gewann.

Mittlerweile dürfen Dutzende russische Leichtathleten unter neutraler Flagge starten, wenn sie unter anderem von unabhängigen Kontrolleuren getestet werden. Lassizkene wurde auf dieser politischen Umgehungsstraße Weltmeisterin 2017, Europameisterin 2018. Aber der Weltverband hat den Bann gegen ihren Verband zuletzt erst wieder erneuert, auch wegen Berichten, dass gesperrte Trainer in Russland noch immer Athleten betreuen. Da ist es mehr als fraglich, ob die Sperre vor der WM im kommenden September noch gelüftet wird - und was das für Olympia 2020 bedeutet, für die Teilnahme der sogenannten neutralen Athleten wie Lassizkene.

Ihr Trainer sagte mal: "Schau nie zurück, wenn du die Latte reißt, schau immer nach vorne."

Am vergangenen Wochenende sitzt Lassizkene in einem Hotel in Tübingen, sie sollte dort bei einem Meeting springen, das wegen eines Unwetters kurzfristig abgesagt wurde. Sie trägt eine schwarze Jogginghose und einen weiten schwarzen Pulli, der ihre schlanke Statur nur erahnen lässt: 1,80 Meter, 57 Kilo. Sie lächelt schüchtern, wenn man ihr die Hand gibt. Über ihre scharfen Worte wolle sie nicht mehr so gern reden, sagt sie: "Ich habe mich dafür geschämt, was zuvor passiert ist, deshalb habe ich meine Meinung gesagt." Gab es Reaktionen aus den Zirkeln, die sie kritisierte? Sie weicht aus, sie wolle nur noch hochspringen, sagt sie, der Verband sei jetzt gefordert. Was sie über belastete Trainer denkt oder etwa über Stefka Kostadinovas Hochsprungrekord, der ja auch aus einer Hochdopingära stammt - das bleibt unbeantwortet. Nur eines möchte sie noch sagen: Sie stehe zu ihrer Meinung, das sei ihr Recht. Und wenn man bedenkt, wie sehr in Russland das offene Wort geschätzt wird, zumal von einer Athletin, die als Offizierin in der Armee dient, versteht man schon, warum sie sich nach dem Wutausbruch in die Zurückhaltung flüchtet. Hinter die Maske.

Lassizkene war nie extrovertiert, aber sie hat es stets geschafft, diese Reserviertheit als Stärke zu nutzen. Als sie neun Jahre alt war, fiel sie Gennadij Gabriljan auf, einem Sportlehrer in der kleinen Stadt Prochladny im Nordkaukasus, der auch Trainer im örtlichen Sportklub sowie an der Sportschule war und ahnte, was für ein Talent ihm da zugelaufen war. Gabriljan baute sie behutsam auf, er lässt Lassizkene noch heute mit nur acht kraftvollen, langen Schritten anlaufen - ein Relikt aus der Zeit, als sie in einer engen Halle in Prochladny trainierten. Lassizkene sprang als 15-Jährige bereits 1,83 Meter, zwei Jahre später gewann sie Gold bei den Olympischen Jugendspielen (1,90). Der Durchbruch bei den Erwachsenen gelang 2014, mit ihrem ersten Sprung über zwei Meter, EM-Silber und dem ersten WM-Titel im folgenden Jahr. Die Sperre 2016 in Rio? Könne sie heute eh nicht mehr ändern, sagt sie. Ihr Trainer habe ihr einmal gesagt: "Schau nie zurück, wenn du die Latte reißt, schau immer nach vorne." Auch deshalb dieser hohe, ernste Blick.

Was hochnäsig wirkt, ist tatsächlich eine Schlichtheit, die alles Störende vertreiben soll. Sie schaue nie auf andere, sagt Lassizkene, kümmere sich nicht um Trainingspläne oder WM-Normen, sie vertraue da ganz ihrem Trainer. An die 45 Meetings, die sie hintereinander gewann, ehe die Serie im vergangenen Juli in Rabat riss, oder die 2,10 Meter denke sie auch nicht - Zahlen, sagt sie, wirken "wie eine Barriere". Was sie motiviere, seien ihre Resultate und das flüchtige, süße Gefühl, eine Latte zu überfliegen, die doch immer gewinnt, weil sie am Ende drei Mal herunterplumpst.

Marija Lassizkene ist gerade auf einem Weg, von dem sie noch nicht so recht weiß, wo er sie hinführt, sportlich wie politisch. Aber sie habe alles gesagt und getan, findet sie, mehr könne sie nicht machen. In die Doping-Causa ist sogar ein wenig Bewegung geraten, Verbands-Vize Andrej Silnow trat zuletzt hastig zurück, als Dopingvorwürfe gegen ihn ruchbar wurden. Und sportlich ist Lassizkene sowieso die große Favoritin für die WM und Olympia 2020, wenn sie denn starten darf. Tief drinnen, sagt sie, wünsche sie sich natürlich schon den Olympiasieg. Hinter der Maske.

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Quelle:
SZ vom 25.06.2019/schm
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