Hintergrund:Eine wunderschöne Freundschaft

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Der interkontinentale Klassiker Argentinien gegen England ist vor allem ein Spiel der Klischees.

Ronald Reng

(SZ vom 7.6.02) - Argentiniens Angreifer Gabriel Batistuta hat sich für diesen Freitagabend nicht so viel vorgenommen. Er will weder Argentinien von seiner Wirtschaftskrise noch die Falkland-Inseln von britischer Herrschaft befreien. "Wir können nicht auf den Fußballplatz gehen, um die Probleme zuhause zu lösen", sagte Batistuta vor dem WM-Vorrundenspiel am heutigen Freitag in Sapporo gegen England. "Und ich kann auch nicht verändern, was Geschichte ist. Ich will England schlagen, weil ich jedes Fußballspiel gewinnen will, aber nicht weil unsere Länder 1982 im Krieg waren."

Argentiniens Stürmerstar Gabriel Batistuta weiß das Spiel gegen England richtig einzuschätzen. (Foto: N/A)

Die Rivalität der Gegensätze

Von allen möglichen Seiten wird el clasico, wie Argentinier den Vergleich mit England nennen, überhöht. Dabei braucht man den Krieg um diese hauptsächlich von Schafen bewohnte Insel gar nicht erwähnen, man kann die argentinische Krise in den Politikteilen der Medien lassen - und Argentinien gegen England verliert nichts von seiner Außergewöhnlichkeit. Es ist der einzige interkontinentale Klassiker des Fußballs. Normalerweise braucht eine Rivalität Nähe. Brasilien gegen Argentinien, England gegen Deutschland, Deutschland gegen die Niederlande sind Hasslieben des Fußballs; unter Nachbarn geht man sich leicht auf die Nerven. Argentinien und England aber trennt ein Ozean. Genau das scheint die Essenz ihrer Rivalität zu sein: Sie halten sich für so gegensätzlich.

Bereitwillig besetzen Engländer und Argentinier auch diesmal wieder die Klischees: hier die guten Engländer. Die naiven Engländer, sagen die Argentinier. Dort die mit allen Wassern gewaschenen Argentinier. Die betrügerischen Argentinier, sagen die Engländer. "Wir sind zu ehrlich", behauptet ihr Kapitän David Beckham. Bei der WM 1998 wurde er nach einem harmlosen Foul vom Platz gestellt; auch weil sein Gegner Diego Simeone zu Boden ging wie der sterbende Schwan. "Beckham trat mich, und ich habe die Situation ausgenutzt", sagt Simeone, der in Sapporo auch wieder dabei ist.

Der Stoff für Legenden

Es sind, wie gesagt, Klischees. Daran, dass Englands Michael Owen 1998 nach der leichtesten Berührung des Argentiniers Roberto Ayala zu Boden ging und einen Elfmeter herausholte, will sich kaum noch jemand erinnern. Ein Klassiker lebt von seinen Legenden, seinen Mythen, auch seinen Vorurteilen. Welches WM-Duell hat mehr davon zu bieten als England - Argentinien?

1966 sah der argentinische Kapitän Antonio Rattín im Viertelfinale die Rote Karte - und ging nicht vom Platz. Nach acht Minuten Spielunterbrechung hatte ihn jemand überreden können, dass es Zeit für eine Dusche sei. Englands Trainer Alf Ramsey allerdings hatte sich seine Meinung gebildet. "Tiere" nannte er die Argentinier und verbot seinen Spielern nach ihrem 1:0-Sieg den Trikottausch. Eine wunderschöne Freundschaft bahnte sich an.

Die berühmteste Hand Gottes

Am 22. Juni 1986 tauchte aus dem Nichts die Hand Gottes auf. Diego Maradona gewann mit Argentinien das WM-Viertelfinale in Mexiko, indem er den Ball mit der Hand über Englands Torwart Peter Shilton hinweg ins Tor boxte. Der Referee übersah es, und der größte Fußballer seiner Generation erklärte, er sei es nicht gewesen, sondern "die Hand Gottes". Dann schoss er ein zweites Tor, nachdem er 55 Meter über den Platz und an vier Engländern vorbeigedribbelt war. "Gegen kein anderes Team wäre mir so ein Tor gelungen", sagte Maradona, "weil jedes andere Team mich umgetreten hätte." In diesen Toren zentriert sich alles: die vermeintliche Gewieftheit der Argentinier, die angebliche Aufrichtigkeit der Engländer.

Und Maradona jammert heute, dass Torwart Shilton nicht dem Klischee entsprach; der Täter beklagt sich, dass das Opfer ihm nie verziehen hat: "Er gönnt mir das Tor nicht, er sagt, ich sei ein Betrüger", erzählte Maradona in einer Fernsehdokumentation und wandte sich plötzlich direkt an die Kamera: "Shilton! Du denkst, du bist der Held: der ehrliche Shilton! Gib mir mein Tor, Shilton, du Flaschentorwart!"

Ablenkung durch Fussball

1998 in Frankreich, Englands Niederlage im Elfmeterschießen, die argentinischen Spieler, "die uns nach dem Spiel vom Bus aus auslachten" (Beckham) - es war die Wiederholung des 86er Themas. "So ein Spiel vergisst man nie, deswegen wollen wir sie diesmal schlagen", sagte Englands Stürmer Michael Owen.

Das lässt ein großes Match erwarten. Wenngleich ohne Nutzen für argentinische Arbeitsämter. "Hoffentlich können wir den Leuten zuhause eine kleine Freude machen", sagte Gabriel Batistuta, "aber wir werden dadurch keine neuen Jobs für sie finden."

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