Hertha BSC:Endlich den Motor angeworfen

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"Bälle erobern und sie dann einfach und sauber spielen": Santi Ascacíbar (r.) in Aktion. (Foto: Sebastian Räppold/imago images/Matthias Koch)

Santi Ascacíbar hat sich inzwischen in Herthas defensivem Mittelfeld etabliert . Was im Berliner Derby gegen Union gefragt ist, weiß er aus eigener Erfahrung - aus Argentinien.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Alte Försterei löst bei Santiago Ascacibar, 24, nicht nur behagliche Gefühle aus. Er mag die Enge des Stadions des 1. FC Union Berlin und auch die Passion, die einem Fußballer von den Rängen entgegenschlägt; sie erinnert ihn an die argentinische Heimat. Andererseits: Es bleibt der Ort seiner bislang größtmöglichen Niederlage, dem Abstieg mit dem VfB Stuttgart, ein 0:0 im Relegationsspiel der Saison 2018/2019 besiegelte Stuttgarts vorübergehenden Abschied. Und die Begeisterung, die sich damals in Köpenick entlud, sie hatte auch ihre Schattenseiten.

"Wie die aufs Feld gestürmt sind - das vergisst man nicht. Da waren einige dabei, die haben uns sogar Schläge angedroht", sagt Ascacíbar. Am Samstag wird er nach Köpenick zurückkehren. Als Spieler von Hertha BSC - und damit aus Anlass eines Spiels, das an Emotionen kaum geizen wird: das fünfte Bundesligaderby zwischen den beiden Hauptstadt-Klubs.

Es werde ein "Fight" werden, sagte Hertha-Coach Pal Dardai am Donnerstag, und Ascacíbar ist als Startelf-Kandidat wohl gesetzt. Weil er sich bei Hertha inzwischen etabliert hat. Und weil er zu jenen zählt, die sich im Zweifel mit dem Kopf voraus in jeden Ball hineinwerfen. "Bälle erobern und sie dann einfach und sauber spielen, das ist meine Stärke", sagt Ascacíbar.

Dardai nannte Ascacíbars Auftreten in der vergangenen Saison "respektlos" und "egoistisch"

Es hat so manchen Beobachter verwundert, dass sich Dardai Ende der letzten Saison ausgerechnet den Argentinier vorknöpfte, um die Selbstsucht zu bekämpfen, die er im Abstiegskampf als Herthas Grundübel ausgemacht hatte. Beim 2:2 gegen Mönchengladbach hatte er Ascacíbar vom Feld geholt - obwohl der ein Tor erzielt und am zweiten beteiligt gewesen war. Er unterließ es, den Trainer "abzuklatschen", wirkte mürrisch. Dardai nannte das "respektlos" und "egoistisch".

Klar sei er sauer gewesen, sagt Ascacíbar heute. Aber nicht aus Eitelkeit: Weil er immer auf dem Platz stehen wolle. Doch dass er gegen die Etikette verstoßen hatte, wurde ihm erst bewusst, als die Kameraden ihm das in der Kabine sagten: "In Südamerika gehst du runter, und gut ist", sagt er. Die Episode sei längst aufgearbeitet, er habe Dardai um Entschuldigung gebeten. Aber darauf legt er schon wert: "Ich bin kein Egoist. Überhaupt nicht. Die Leute sollen das wissen: Für mich steht die Mannschaft über allem. Immer."

Ascacíbar landete im Januar 2020 in Berlin, nach knapp zweieinhalb Jahren beim VfB, der ihn gewinnbringend verkaufte, nachdem er ihn bei Estudiantes La Plata für rund acht Millionen Euro abgelöst hatte. "Der Wechsel nach Deutschland war eine gigantische Umstellung", sagt Ascacíbar. Er war kaum 20, als er ohne Familie in ein neues Land kam - und nicht nur eine Sprache, sondern auch einen anderen Fußball erlernen musste, unter schwierigen Bedingungen: In vier Jahren hatte er schon elf Trainer - die alle eigene Vorstellungen vom Spiel haben.

Er habe viel gelernt, sogar "die Art, wie ich gegen den Ball schlage, habe ich geändert", erklärt Ascacíbar. Chip-Bälle über die gegnerische Abwehrkette oder auch lange Pässe zur Spielverlagerung seien Elemente, die in der Heimat eher nicht zum Repertoire eines defensiven Mittelfeldspielers gehörten. "Dies hier ist ein anderer, physisch starker Fußball, mit vielen Umschaltsituationen. In Argentinien hast du die Zeit, noch mal nach links und rechts zu schauen: Hier geht alles viel schneller. Tac, tac - und schon musst du den Ball spielen." Wie er überhaupt lernen musste, offensiver zu denken und zu spielen.

Mit 1,68m will er Kopfballduelle gegen 1,90m große Gegenspieler gewinnen

"In Argentinien verlangen die Trainer, dass du hinten bleibst, für die Stabilität der Mannschaft sorgst. Aber hier? Wenn der Ball vorn ist - auf, hinterher!" Und es gibt nicht so wenige, die mit einer gewissen Skepsis auf ihn blicken - wegen seiner Körpermaße. "Ich entspreche nicht dem Prototyp des Fußballers, der in Deutschland gesucht wird. Aber ich finde es großartig, jedes Mal zu beweisen, dass ich trotzdem auf der Höhe bin und zeigen kann, was man mit 1,68 m alles leisten kann. Auch bei Kopfbällen, bei Zweikämpfen mit 1,90 m großen Gegenspielern."

Der Kleinste war er im Grunde immer schon: Erstmals in einer Mannschaft spielte er im Alter von drei Jahren - im Team seines älteren Bruders. Mit acht Jahren kam er zu Estudiantes, einem der traditions- und erfolgreichsten Klubs Argentiniens. Pincharratas werden die Spieler dort genannt, "Rattenpiekser", weil dort viele Studenten der medizinischen Fakultät spielten; der berühmteste war der spätere Weltmeistertrainer Carlos Bilardo. Doch in La Plata gibt es noch einen weiteren Verein, Gimnasia y Esgrima, wo Ascacíbars großes Idol Diego Maradona bis zum Tod Trainer war. Und es gibt eine Rivalität, die größer ist als die zwischen Union und Hertha.

"Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das Berliner Derby für mich dasselbe ist wie ein Clásico gegen Gimnasia. Da sind andere Gefühle dabei. Da wollte ich schon zwei Wochen vorher nichts anderes als das Derby gewinnen", sagt er. Sein erster Clásico war ein Testspiel; es artete dennoch zu einer Massenkeilerei aus. Nach einer Grätsche von Ascacíbar - für die er Rot sah - kam es zu Rempeleien und Schlägen, im Internet findet man ein sehr langes Video dazu. Aber auch wenn das Zugehörigkeitsgefühl, "das mein Motörchen anwirft", in Berlin anders sei als in La Plata - das Derby sei ihm schon wichtig. "Beim Pincha haben sie uns immer gesagt: Derbys muss man gewinnen, da geht es nicht ums Schönspielen. So ist es jetzt auch", sagt Ascacíbar - und formuliert ein Versprechen: "Gegen Union werde ich alle meine Emotionen reinbringen."

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