Cristian Fiél, 44, schert sich nur in Maßen um die Vergangenheit. Sei es die lange zurückliegende oder die vorangegangene Nacht. Donnerstag, Medienraum von Hertha BSC auf dem Berliner Olympiagelände, Trainer Fiél blickt auf die Journalisten, die vor ihm sitzen, auf Stühlen, die angeordnet sind wie einst in den Tagen der Pandemie. Was er seinen Spielern nach dem 2:1-Pokalsieg gegen den 1. FC Heidenheim vom Mittwoch gesagt habe, will ein Reporter von ihm wissen; im Mannschaftskreis, der nach dem Einzug ins Achtelfinale auf dem Rasen des Olympiastadions gebildet wurde, habe man so viele lachende Gesichter gesehen. „Keine Ahnung“, antwortet Fiél: „Vielleicht habe ich kurz meine Kappe heruntergenommen und die haben gesehen, dass ich nur noch 14 Haare habe.“
Lachende Gesichter? In Berlin, der Kapitale der Blaffkes, wie sie an der Spree heißen? Nach einem Frührundenpokalspiel der Hertha im Olympiastadion, die noch stets zu hängenden Schultern geführt haben, weil Hertha verlässlich den Traum vom Finale im eigenen Wohnzimmer versenkte? Kiek dia dat ma an!
Und (psssssst!), das Beste kommt noch: Hertha spielt nicht nur Fußball, sondern richtig guten Fußball. Die erste Halbzeit gegen Heidenheim war nicht nur das beste Saisonspiel, sondern der qualitativ beste Auftritt seit Jahren. Die Wahl des neuen Präsidenten auf der Mitgliederversammlung am 17. November bahnt sich erstaunlich geräuscharm an; ein Herausforderer namens Stephan Timoshin, vom Boulevard als „Turnschuh-Millionär“ hochgejazzt, dürfte sich gerade selbst aus dem Rennen genommen haben: Er schrieb auf einen Flyer, er wolle Präsident werden von „Hertha BSC Berlin“, ein Kompositum, das unter Herthanern als No-Go gilt. Noch frappierender aber ist dies: Hertha kommt finanziell besser über die Runden, als vor einem Jahr zu vermuten stand.
Nicht, dass die Hertha über den Berg wäre. Noch lange nicht. Die Muttergesellschaft Hertha BSC GmbH & Co. KGaA – die ausgegliederte Profiabteilung des Zweitligisten – sieht sich weiterhin schwer zu überblickenden Risiken gegenüber: der ungewissen Zukunft des Investors 777 Partners, der selbst wirtschaftlich auf der Kippe steht; und der in rund einem Jahr fälligen Rückzahlung der Nordic-Bond-Anleihe in Höhe von 40 Millionen Euro. Aber: Der unlängst noch als „alternativlos“ bezeichnete Aufstieg zur Saison 2025/26, er ist nicht mehr gar so dringlich, wie es noch vor einem Jahr verkündet worden war.
Belegt wird dies durch das Testat der Wirtschaftsprüfer von Forvis Mazars für das mit der Spielzeit identische Geschäftsjahr 2023/24. Hertha schloss es mit einem Verlust von 33,3 Millionen Euro ab. Was über die schiere Tatsache hinaus vor allem deshalb problematisch ist, weil 23 Millionen Euro davon nicht durch Eigenkapital abgedeckt sind. „Es müssen geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um dem entgegenzuwirken“, fordern die Wirtschaftsprüfer.
Andererseits: Herthas Verlust lag vor einem Jahr mit 99,14 Millionen Euro noch deutlich höher. Auch die Liquidität hat sich verbessert; zum Stichtag 30. Juni 2024 war sie mit 27,5 Millionen Euro etwas mehr als doppelt so groß wie ein Jahr zuvor. Die Verbindlichkeiten der KGaA belaufen sich auf 56,7 Millionen Euro, im Sommer 2023 waren es noch 103 Millionen. Auch das ein Fortschritt.
Von den Verbindlichkeiten entfallen 40 Millionen Euro auf die Nordic-Bond-Anleihe, die Hertha in ziemlich genau einem Jahr an ihre Zeichner zurückzahlen muss – und zurzeit definitiv nicht hat. Hertha arbeite „an der bestmöglichen Refinanzierung“, heißt es im Bericht der Wirtschaftsprüfer. Konkret liefen „vielversprechende Gespräche mit fünf potenziellen Finanzierungspartnern“, um die 40 Millionen für die Rückzahlung aufzutreiben und die Zinsbelastung zu senken. Aktuell muss Hertha das Kapital der Anleihezeichner mit 10,5 Prozent verzinsen; Bankkredite wären aktuell deutlich günstiger – wenn man sie bekommt.
Der sportliche Abstieg in die zweite Liga ließ den Umsatz von 117,6 auf 95,7 Millionen sinken, was naturgemäß vor allem den in Liga zwei deutlich niedrigeren TV-Einnahmen geschuldet ist. Gleichzeitig konnte das Hertha-Management aber die Personalkosten drastisch nach unten fahren – von fast 98 auf 45,8 Millionen Euro. Den größten Brocken machen dabei die Gehälter der Spieler aus.
Unter Trainer Fiél etabliert sich eine Fußballphilosophie, die das Bedürfnis nach Selbstvertrauen weckt – und mit Erfolgen stillt
Was 777 Partners angeht, atmet man bei Hertha vernehmbar auf. Zwar macht man sich keine Hoffnungen auf eine baldige Erholung des wirtschaftlich schwer angeschlagenen Investors. Hertha hat auch nur 75 Millionen der beim 777-Einstieg angekündigten 100 Millionen Euro gesehen. Aber: Man schätzt sich glücklich, dass diese 75 Millionen überhaupt geflossen sind: Hertha konnte sich damit retten und sein finanzielles Fundament stärken. Gegen eine Auszahlung der verbleibenden 25 Millionen Euro hätte man sicher nichts einzuwenden – zumal sie vertragsgemäß an Bedingungen geknüpft ist, die nun zumindest teilweise erfüllt sind. Mit den 25 Millionen sollten Verluste ausgeglichen werden, die „nicht durch Eigenkapital gedeckt sind“. Hertha aber geht, wie dem Wirtschaftsprüferbericht zu entnehmen ist, davon aus, dass dieses Geld nicht mehr fließen wird. „Forderungen in Höhe von 4,9 Millionen Euro, die zu diesem Zweck nach den ersten sechs Monaten des Geschäftsjahres erfasst wurden, wurden zum Bilanzschluss aus Gründen der kommerziellen Vorsicht vollständig abgeschrieben.“
Das dürfte in letzter Konsequenz bedeuten, dass Hertha am Ende der Saison darauf angewiesen sein wird, Gelder zu generieren, wie es neudeutsch heißt, sprich: die größten Hoffnungsträger zu verkaufen. Zum Beispiel? Den Mittelfeldwusler Ibrahima Maza, 18, der neulich seinen Vertrag bei Hertha um ein Jahr verlängert hat. Das war auch eine Geste der Dankbarkeit, die andere schon mal vermissen lassen. Sollte Maza gehen, wird Hertha eine Ablöse kassieren. Im Fall von Bence Dardai, dem Sohn des Ur-Herthaners Pal Dardai, ging der Klub leer aus, weil Dardai jr. durch einen Verzicht auf einen neuen Kontrakt ablösefrei nach Wolfsburg gehen konnte. Neben Maza gibt es aber noch ein anderes, offensives Mittelfeldjuwel: Michaël Cuisance, 25. Mehr noch: Cuisance spielt dieser Tage auf, als wolle er die fleischgewordene Allegorie Herthas werden. Denn er durchlebt eine Renaissance, die man vor ein, zwei, drei Jahren nicht für möglich gehalten hätte.
Cuisance war schon früh hochgejubelt worden, aus guten Gründen. 2017 lockten Manchester City und Pep Guardiola; weil er einen Arbeitsplatz in Nähe des heimischen Elsass bevorzugte, ging er zu Borussia Mönchengladbach, danach irrlichterte er durch Europa. Cuisance ging zum FC Bayern, wurde an Olympique Marseille und von dort an den FC Venedig verkauft, wurde an Sampdoria Genua und am Ende an den letztjährigen Zweitliga-Absteiger VfL Osnabrück verliehen. Nun also: Berlin. Er ist Vater geworden, wirkt seither geerdet und arbeitsam – und hinreichend glücklich, um Kunst zu zelebrieren. Beim 2:1 gegen Heidenheim schoss er das 2:0, Übersteiger und Hüftwackler inklusive. „Was soll ich sagen?“, fragte er. „Supertor!“
Doch was ihn nach der Partie wirklich erfüllte, war, dass Hertha in einem „Referenzspiel“, wie er es nannte, gegen einen Bundesligisten von Rang überzeugt hatte. Das liege auch an der Arbeit mit Fiél, die nun aufblühe. „Wir haben gut verstanden, was wir wie machen müssen, sollen – und können“, dozierte Cuisance. „Der Spaß steigt von Spiel zu Spiel.“ Das sagt auch Maza, das größte Talent der Hertha-Akademie, das sich nur deshalb für die Nationalmannschaft Algeriens entschied, weil beim DFB auf seinen Positionen Florian Wirtz und Jamal Musiala die Planstellen blockieren. Es mache auch ihm „extrem viel Spaß“, mit Kameraden „zu zocken“, die „immer den Ball haben wollen und viel Qualität besitzen“, sagte Maza.
Tatsächlich scheint es, dass sich Hertha unter Fiél gerade eingroovt – so sehr, dass sich sogar Florian Niederlechner anstecken lässt. Phänotypisch ist er ein Strafraumstürmer mit der Agilität eines Baukrans, gegen Heidenheim setzte er plötzlich im Strafraum zum Bierdeckelsolo an. Erfolgreich, wohlgemerkt.
Das alles kommt, zumindest scheint es so, nicht von ungefähr. Unter Vorgänger Pal Dardai hatte die Hertha-Belegschaft noch mühsam (und nur mäßig erfolgreich) gegen den Ball arbeiten müssen und war im Zweifel auch öffentlich gedemütigt worden. Nun wird unter Fiél eine Philosophie etabliert, die auf Ballbesitz gründet, was gleichermaßen das Bedürfnis nach Selbstvertrauen weckt – und durch Erfolge stillt.
Die Hertha hat nun, Pokaltriumph gegen Heidenheim inklusive, drei Siege nacheinander eingefahren und beleg-t vor dem Spiel am Samstag gegen den 1. FC Köln (20.30 Uhr, Sky) Tabellenplatz sechs. Das ist die beste Platzierung seit dem Abstieg 2023. Die Aufstiegsplätze sind in Schlagdistanz, und auf der Tribüne sitzen verletzte Spieler mit großem Potenzial: der ehemalige Leipziger Diego Demme – und vor allem Fabian Reese, in der vergangenen Saison der fraglos beste Zweitligaspieler. Nicht, dass irgendetwas in Stein gemeißelt wäre. Aber die Verlockung, ein Zitat zu paraphrasieren, das Otto von Bismarck zugeschrieben wird, ist gerade groß: Hertha scheint der stärkste Klub der Welt zu sein. Denn Jahr für Jahr versucht er, sich selbst zu zerstören, und hat immer noch keinen Erfolg.