Vor einigen Jahren sorgten die Fans von Real Madrid bei einem Derby für Aufsehen. "Würdiger Rivale für anständiges Derby gesucht", war auf einem Banner auf der Südtribüne des Estadio Santiago Bernabéu zu lesen, zu Gast waren die Nachbarn von Atlético Madrid. Nicht, dass eine Nachahmung der damals überaus belustigenden Respektlosigkeit empfehlenswert wäre - Atlético zog daraus einen Grad an Motivation, der die Hegemonie in der spanischen Hauptstadt in Zweifel zog. Aber in Berlin gebe es allmählich einen objektiven Grund zur Imitation: Genauer: beim 1. FC Union Berlin.
Am Samstag siegten die Köpenicker im übrigens herrlich geschmückten Stadion An der Alten Försterei 3:1 (1:0) gegen den Nachbarn Hertha BSC - und holten damit ihren vierten Stadtduell-Sieg in Serie. Union hat nun sieben von 13 Derbys gewonnen, wegen der Teilung der Stadt gab es derer nicht so viele. "Es ist extrem wichtig, jetzt keine Untergangsstimmung aufkommen zu lassen", sagte Hertha-Trainer Sandro Schwarz, der seine Arbeit gerade erst aufgenommen hat und die Bestätigung für das erfuhr, was er geahnt hat: Seine Mission wird schwer.
Denn seine Mannschaft fabrizierte einen klassischen Fehlstart. In der Vorwoche war die Hertha im Pokal beim Zweitligisten Eintracht Braunschweig ausgeschieden, damals war der neue Hertha-Präsident Kay Bernstein, einst Ultra-Vorsänger der Hertha-Fans, erstmals auf der Ehrentribüne. Bernsteins frühere Gesinnungsgenossen, die sich übrigens bestens zu benehmen wussten, zeigten sich nach der Pleite erstaunlich versöhnlich. Nach der Niederlage spendeten sie dem Team auf dem Rasen aufmunternden Applaus. "Das war ganz großer Sport", lobte Schwarz.
"Union ist die bessere Mannschaft", bilanziert Herthas Torwart Oliver Christensen
Das war es auch deshalb, weil es an der Berechtigung des Sieges und der Überlegenheit der Unioner in keiner Weise Zweifel gab, das Frustpotenzial also kaum größer sein konnte. Sinnbildlich dafür: Hertha brauchte eine Stunde, ehe sie sich über eine Chance aus dem Spiel heraus freuen konnte. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Spiel schon gelaufen, weil der 1. FC Union durch die Treffer von Zugang Jordan Siebatcheu (32.), Sheraldo Becker (52.) und Robin Knoche (54.) sein Statement längst abgegeben hatte.
Herthas Chance hatte der neue Stürmer Wilfried Kanga, der nur wenige Minuten zuvor zusammen mit Chidera Ejuke und Stevan Jovetic eingewechselt worden war, für die insgesamt und vollends enttäuschenden Davie Selke, Prince Boateng und Myziane Maolida. Das 1:3 durch Dodi Lukébakio (85.) wurde erst protokolliert, als die Unioner gedanklich bei der Ehrenrunde waren. "Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer eins", sangen die Unioner, die erstmals seit ihrem erstmaligen Aufstieg im Sommer 2019 mit einem Sieg in eine Bundesligasaison starten konnten.
Was sich seit jenem Sommer 2019 getan hat? Union ist der Hertha in vielen entscheidenden Belangen enteilt. Strukturell und sportlich. "Union ist die bessere Mannschaft", bilanzierte Herthas Torwart Oliver Christensen. Das liegt auch an einer immer wieder erstaunlichen Erneuerung des Kaders. Wie bei einer Hydra wachsen Union immer wieder neue Köpfe nach. Im laufenden Kalenderjahr ging Union eine ganze Achse verloren, verließen Andreas Luthe, Max Kruse, Marvin Friedrich, Grischa Prömel und Taiwo Awoniyi den Klub. Kein Problem. Der portugiesische Innenverteidiger Diogo Leite spielte souverän an der Seite des routinierten Robin Knoche - und dann ist da auch noch der neue Stoßstürmer Jordan Siebatcheu. Er deutete nicht nur wegen seines wahrlich wundervollen Kopfballtreffers zum 1:0, sondern auch wegen des einen oder anderen Passes an, dass er seinen Vorgänger Awoniyi (Nottingham Forest) bald vergessen machen wird.
Unions neuer Stoßstürmer Jordan Siebatcheu scheint auf bestem Wege zu sein, mit Sheraldo Becker hervorragend zu harmonieren
Vor allem scheint Siebatcheu auf bestem Wege zu sein, mit Sheraldo Becker hervorragend zu harmonieren - dessen Treffer aber bereitete der überaus auffällige Prömel-Ersatz Janik Haberer vor; der frühere Freiburger spielte eine guten Pass in die Tiefe, Herthas neuer Innenverteidiger Filip Uremovic kam nicht hinterher. Doch nicht nur die Neuen schlugen ein; die altbewährten Kräfte funktionieren immer noch. Der dritte Treffer war ein Kopfball Knoches nach Ecke von Kapitän Trimmel und hatte nur einen Schönheitsfehler: Der Schiedsrichter entschied auf Abseits, wurde aber vom Videoassistenten korrigiert, so dass Schütze Knoche um den unmittelbaren Jubel gebracht wurde.
In den Aufstellungen beider Mannschaften gab es ansonsten zwei Überraschungen. Dominique Heintz flog bei Union nach einer überaus überschaubaren Leistung beim Pokalsieg in Chemnitz (2:1 n.V.) aus dem Kader. Bei Hertha BSC ereilte Dedryck Boyata dasselbe Schicksal. Dessen Trainingsleistungen ließen offenkundig die richtige Haltung vermissen.
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So gesehen hätte er bei der Hertha in die Mannschaft gepasst. Die Unioner "waren in vielen Bereichen besser, griffiger und galliger", resümierte Schwarz einigermaßen ernüchtert. Die Einstellung der Köpenicker war auch Ausfluss dessen, dass es eine offenkundig intensive Auseinandersetzung mit dem Pokalspiel vom Montag gegeben hatte, Trainer Urs Fischer war nach dem 2:1-Sieg nach Verlängerung alles andere als zufrieden gewesen. Ganz anders am Samstag: "Für mich war die Reaktion fast wichtiger als der Sieg. Die haben wir von uns selbst gefordert und nach dem Pokal auch erwartet. Die Mannschaft hat gezeigt, zu was sie fähig ist, wenn sie für die Aufgabe bereit ist", erklärte der Schweizer, dessen Team in einer von Sturm und Drang geprägten Anfangsphase mehrmals knapp an der Führung vorbeigeschrammt war.
Der Strafraum Herthas brannte wie der Grunewald am anderen Ende der Stadt, nur zeitweise konnte das Team den Eindruck erwecken, die Partie unter Kontrolle zu bringen. Die künftigen Herausforderungen werden nicht kleiner: Am kommenden Wochenende gastiert Eintracht Frankfurt in Berlin, danach wartet Borussia Dortmund. Bei Union hingegen herrschte weit weniger Nervosität - dafür aber waren Worte altbekannter Genügsamkeit zu hören. Mögen sie auch in der abgelaufenen Saison Europa-League-Teilnehmer geworden sein, der Blick geht streng nach unten. "Es bleibt dabei: 40 Punkte zu holen in dieser Liga, ist eine Riesenherausforderung", sagte Präsident Dirk Zingler. Obwohl der 1. FC Union nicht wie eine Mannschaft wirkt, die auch nur irgendetwas mit dem Abstiegskampf zu tun haben wird - im Gegensatz zur Hertha.