Süddeutsche Zeitung

Biographie:Tollkühner mit Mütze

Er fegte das Defensivspiel von der Taktiktafel und erfand den Hochgeschwindigkeits­fußball: Über Helmut Schön, den Weltmeister-Trainer von 1974, hat Bernd-M. Beyer geschrieben.

Von Ludger Schulze

Alle und alles in Listen zu klassifizieren, ist bekanntlich ein beliebtes Gesellschaftsspielchen. Wetten, dass also pünktlich zum WM-Jahr 2018 die Frage nach dem besten, dem erfolgreichsten Bundestrainer "aller Zeiten" auftauchen wird. Eh klar, der Löw ist's, der aktuelle Weltmeister. Nein? Na gut, äh, der Beckenbauer halt, der alte Weltmeister. Auch nicht? Dann der Herberger, der uralte Weltmeister! Nix da, schon wieder falsch. Also: Der beste, erfolgreichste Bundestrainer ist einer aus den Schwarz-Weiß-Jahren des Fernsehens, Helmut Schön, ein Mann, der von der Flut der Jahrzehnte, der Ereignisse und Bilder verschluckt und somit fast vergessen ist.

Dass sich an ihn nur noch die Älteren erinnern, ist angesichts seiner Leistungen kaum verständlich, schließlich hat Schön deutlich mehr vorzuweisen als die bekannteren Kollegen: Weltmeister 1974, Europameister 1972, Zweiter bei der WM '66, WM-Dritter '70, bloß EM-Zweiter '76 nur deshalb, weil Hoeneß den entscheidenden Strafstoß von einem Belgrader Elfmeterpunkt aus Richtung Karpaten ballerte. Dass niemand in den vergangenen 40 Jahren auf die Idee gekommen ist, über diesen feinsinnigen Erfolgsgentleman und sein wechselvolles Leben ein Buch zu schreiben, ist unverständlich; geradezu absurd ist das vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Trainer-Biografien über, mit Verlaub, etwas weniger markante Persönlichkeiten wie Peter Neururer, Dragoslav Stepanovic, Huub Stevens oder Bernd Schröder den Buchmarkt überschwemmten.

Diesen groben Fehler hat Bernd-M. Beyer nun korrigiert. Beyer ist Cheflektor des renommierten Göttinger Werkstatt-Verlags gewesen und hat in dieser Eigenschaft etliche großartige Bücher herausgebracht, beispielsweise "Das goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft". Einen viel beachteten Roman über den jüdischen Fußballpionier Walter Bensemann, der den Fußball als Mittel der Völkerverständigung in Deutschland etablierte, hat er selbst geschrieben. Sein Meisterwerk aber ist zweifellos "Helmut Schön. Eine Biografie". Es ist elegant geschrieben, exzellent recherchiert, und bietet auf mehr als 500 Seiten - von denen nicht eine langweilt - eine Unmenge bislang unbekannter Details. Am Ende des Buches fragt man sich, wie ein derart spannender Stoff so lange unentdeckt bleiben konnte.

Helmut Schön kam 1915 als Sohn eines liberalen Dresdener Kunsthändlers auf die Welt, Unterstützung erfuhr der junge Kicker durch die Mutter. Sein sportlicher Ziehvater war der schottische Trainer Jimmy Hogan, ein früher Vorgänger des Kurzpass-Apologeten Pep Guardiola. Mit dem Dresdener SC wurde der hochgewachsene, der technisch beschlagene Stürmer zweimal deutscher Meister, für die Nationalelf erzielte er in 16 Länderspielen 17 Tore - und liegt mit einer Quote von 1,06 Treffern pro Spiel nur ein Törchen hinter dem unübertrefflichen Gerd Müller (1,10). Weitere Erfolge verhinderte ein instabiles, extrem verletzungsanfälliges Knie, das ihn immer wieder zu quälend langen Pausen zwang und ihm beim Reichstrainer Sepp Herberger, der Presse und den Zuschauern den - ungerechtfertigten - Ruf eines Weicheis eintrug. In seiner sächsischen Heimat sagte man: "E dirregder Lewe is' er nich." Die Schmähung sollte ihn ein Leben lang begleiten.

Schöns Karriere begann in einer Diktatur und ging über in die nächste. Als Spieler mogelte er sich durch Hitlers Tausendjähriges Reich, ein Nazi war er nie, engster Freund der Familie Schön war der jüdische Verleger Max Wollf, der sich umbrachte, ehe er deportiert werden konnte. Schöns Laufbahn als Trainer begann im Sozialismus, oder was man in der DDR dafür hielt. Auch hier schwamm er mit, wurde sogar Nationaltrainer, aber schließlich wegen "undemokratischen Verhaltens" gefeuert, als er während eines Trainerlehrgangs in Köln den Kontakt zu Sepp Herberger aufnahm. Bevor es ihm richtig ans Leder ging, floh Schön in die neudemokratische Bundesrepublik.

Als Landestrainer des seinerzeit autonomen Saarlands erwarb Schön erste Meriten, Herberger machte ihn 1956 zu seinem ersten Assistenten. Acht Jahre später wurde "der Mann mit der Mütze", wie ihn der Chansonnier Udo Jürgens später besang, Nachfolger des Alten von der Bergstraße. Herbergers Sticheleien nervten ihn zusehends, vor allem der ewige Vorwurf, ein Zauderer und übersensibler Spielerversteher zu sein. Das weckte Animositäten auch in Stadien und Pressehäusern. Dabei hatte Helmut Schön nur den autoritären Führungsstil der Adenauer-Ära ad acta gelegt, er machte sich Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" zu eigen, gab den Spielern Mitsprache und ließ Strategen wie Beckenbauer, Netzer oder Overath freie Hand auf dem Rasen. Schöns Vorliebe für Theater und Oper rundete das Zerrbild des weltfremden Intellektuellen und Zweiflers ab.

Schön liebte Theater, Oper und legte den autoritären Stil der Adenauer-Ära ad acta

Dabei bewies der Bundestrainer, wie Bernd-M. Beyer belegt, in kritischen Situationen Mut bis an den Rand der Tollkühnheit. Er fegte die defensiv geprägte Spielanlage Herbergers von der Taktiktafel und verordnete erfrischenden Offensiv-Fußball. In einem WM-Qualifikationsspiel in Schweden, bei dem es für Schön um Kopf und Kragen ging, ließ er den Debütanten Franz Beckenbauer mit der Erfahrung von gerade mal sechs Bundesligaspielen Regie führen. Auch Uwe Seeler lieferte eine große Partie in seinem ersten Länderspiel nach halbjähriger Pause wegen eines Achillessehnenrisses. Schön hatte ihn aufgestellt, obwohl die halbe Nation und besonders die Ärzte-Phalanx die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Denn noch nie war bis dahin jemand mit so einer gravierenden Verletzung in den Profifußball zurückgekehrt. Seeler schoss das entscheidende Tor zum 2:1.

1972 brachte Schön in Breitner und Hoeneß zwei Milchbärte ausgerechnet gegen die ausgefuchsten Engländer, ausgerechnet im altehrwürdigen Wembley, worauf Experten den fußballerischen Weltuntergang prophezeiten. Heraus kam ein legendärer 3:1-Sieg in einem fulminanten Match, das von der französischen Sportzeitung L'Equipe als "Fußball aus dem Jahr 2000" gerühmt wurde. Übrigens zirkulierte der Ball mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde durch die deutschen Reihen, ein Wert, dem selbst der heutige Hochgeschwindigkeitsfußball Hochachtung zollen würde. Bis heute konkurriert dieses Spiel mit dem 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014 um Platz eins in der ewigen Hitparade der brillantesten Länderspiele.

Autor Bernd-M. Beyer hätte sich mit Schöns Lebenslauf und seinen sportlichen Daten begnügen können, es wäre immer noch ein interessantes Buch dabei herausgekommen. Seinen besonderen Reiz gewinnt es jedoch dadurch, dass es die Karriere des deutschen Fußballs von der Balltreterei einer geächteten Randgruppe zum Volkssport und Business-Spektakel nachzeichnet. Und ganz nebenbei öffnet das Werk einen faszinierenden Blick auf sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte und extrem unterschiedliche Staatsformen. Die Deutsche Akademie für Fußballkultur hat es sehr zu Recht als Fußballbuch des Jahres geadelt.

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Quelle:
SZ vom 04.11.2017
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