Süddeutsche Zeitung

Zukunft von Kai Havertz:Die Zahl der Interessenten nimmt zu

Was wird aus Kai Havertz? In Leverkusen steht sein Abschied bevor - bis der Fall geklärt ist, wird aber noch eine Weile vergehen.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Nach dem 3:1 im Derby gegen den 1. FC Köln in der vorigen englischen Woche äußerte sich Bayer Leverkusens Trainer Peter Bosz zum bevorstehenden Fernduell mit Borussia Mönchengladbach um Rang vier wie ein Ansager auf der Kirmes: "Das ist Fußball!", sagte er, "das ist spannend!" Bosz hörte sich an, als ob er Passanten animieren wollte, ein Ticket für die Fahrt mit der Jaguarbahn zu lösen.

Nun steht der letzte Spieltag bevor (Samstag, 15.30 Uhr), und vom versprochenen Nervenkitzel ist bloß noch ein kleiner Rest übrig: "Wir dürfen nicht mehr allzu große Hoffnungen reinstecken", meint Leverkusens österreichischer Mittelfeldspieler Julian Baumgartlinger. Der kraft- und fantasielose Auftritt beim 0:2 in Berlin hatte ausgesehen wie die Bestätigung einer Spezialkrankheit namens "Bayer-04-Syndrom", die offenbar jede Spielergeneration aufs Neue befällt: immer dann eine lahme Leistung zu bringen, wenn es drauf ankommt, hohe Erwartungen zu erfüllen.

Den Gladbacher Borussen genügt nun dank zwei Punkten Vorsprung und einem ungleich besseren Torverhältnis ein Unentschieden gegen Hertha BSC, um sich für die Champions League zu qualifizieren. Bayer 04 bliebe dann bloß der Platz in der Europa League, und dieser dürfte intern wie extern nicht mal als Trostpreis begrüßt werden. Der kleine Europapokal findet beim tendenziell verwöhnten rechtsrheinischen Publikum wenig Anklang, Vorrundenbegegnungen in der BayArena mit Malmö FF oder FK Krasnodar hatten auch schon in Zeiten ohne amtliches Einlassverbot den Charakter von Geisterspielen.

Gegen Verluste ist der Klub abgesichert

Anders als die Gladbacher vom Niederrhein sind die Leverkusener nicht so dringend auf die exorbitanten Erlöse der Champions League angewiesen, die wenigstens viermal so hoch sind wie in der Europa League. Der Slogan "Über Geld spricht man nicht, Geld hat man" wird zwar dem US-Millionär Jean Paul Getty zugeordnet, er könnte aber auch von der Bayer 04 Fußball GmbH stammen. Als die Bundesligaklubs während der Corona-Pause der Reihe nach über ihre Verluste klagten, blieb es in Leverkusen still. Niemand klagte.

Gegen Verluste ist der Klub dank eines Vertrages mit der Muttergesellschaft Bayer AG abgesichert. In dieser Saison hat der Konzernverein kräftig in den Kader investiert, die Ausgaben für Spielerkäufe waren mehr als 60 Millionen Euro höher als die Einnahmen, die an der Transferbörse erzielt wurden. Auch die offenbar bevorstehende Vertragsverlängerung mit dem Angreifer Kevin Volland lässt sich Leverkusen wieder einiges kosten.

Dennoch braucht Bayer 04 das Renommee der Champions League, um für international umworbene Spieler eine attraktive Adresse zu bleiben - die eigenen Leute inbegriffen. Daher war es in Berlin das logische Fazit jedes Spielberichts, dass diese Niederlage nicht nur den Zugang zur Eliteklasse, sondern auch den Verbleib von Topspieler Kai Havertz kosten könnte.

Im März und April, als Europas Fußball stillstand und kein Mensch wusste, ob jemals wieder ein Transfermarkt öffnen würde, glaubten die Bayer-Oberen, die Veranstaltungen ihrer Firma ein weiteres Jahr mit der Anwesenheit des Nationalspielers schmücken zu dürfen. Doch der Markt ist längst wieder in Betrieb gegangen, und die Zahl der Interessenten für Havertz nimmt umso mehr zu, da sich abzeichnet, dass nächste Saison statt Madrid und Liverpool nun Malmö und Krasnodar in die BayArena kommen werden. Dem Kölner Stadt-Anzeiger gelang es, Bayer-Geschäftsführer Fernando Carro ein Geständnis zu entlocken: "Ich sehe den Wunsch des Spielers, in naher Zukunft einen nächsten Schritt zu machen", sagte er. Diesem kunstvollen Satz den unzweideutig bekannt gemachten Abschiedswunsch von Havertz zu entnehmen, ist keine gewagte Spekulation.

Havertz, 21, ist seinen Ausbildern in Leverkusen sehr dankbar, und er ist auch seinem Trainer Peter Bosz und dessen angriffsfreudiger Spielstrategie sehr zugetan - aber er hat auch, seinem fußballerischen Genie entsprechend, hohe sportliche Ansprüche. Darüber hat er den Verein durch seine Interessensvertreter in aller Klarheit informieren lassen. Der Vertrag mit Bayer gilt bis 2022 und enthält keine Klausel für den Ausstieg bei Zahlung einer Summe X oder Y. Doch beide Seiten wollen es nicht drauf ankommen lassen, darüber zu streiten. Die Partei des Arbeitnehmers vertritt jedenfalls die selbstbewusste Auffassung, dass sie für eine in ihrem Sinne einvernehmliche Regelung überzeugende Argumente besitzt.

Bis der Fall Havertz geklärt ist, wird aber wohl noch eine Weile vergehen, die Bewerber sortieren sich noch, zumal sie in ihren Ligen in England und Spanien noch mitten im Punktspielbetrieb stehen. Zum Kreis der Übernahmekandidaten könnte sich auch der FC Bayern gesellen. Die Beobachter und durchaus auch die Beteiligten hatten die Münchner immer schon als logischen Anwärter angesehen, doch herrschten in den Klubräumen an der Säbener Straße und am Tegernsee offenbar sehr viele unterschiedliche Ansichten über Sinn, Zweck und Notwendigkeit einer mutmaßlich 100 Millionen Euro teuren Verpflichtung von Havertz. Jetzt wird vielleicht eine neue Rechnung aufgemacht.

Bayer 04 verbreitet nach wie vor, keinen Preisnachlass gewähren zu wollen. Ob der Klub standfest bleiben kann, darüber entscheidet Havertz aktiv mit. Zwei Chancen hat Bayer ja noch, den Einzug in die Champions League zu schaffen: am Samstag gegen Mainz 05 - und im August bei der Endrunde der Europa League, deren Sieger eine Eintrittskarte zur Königsklasse erhält. Dort, sagt Sportchef Rudi Völler, werde Havertz "selbstverständlich" dabei sein. Was selbstverständlich abzuwarten bleibt.

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Quelle:
SZ vom 26.06.2020/sonn
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