Harting bei Leichtathletik-EM:Gold für den Gestenreichen

Lesezeit: 4 min

Wieder ein EM-Gold: Robert Harting (Foto: AFP)

Diskuswerfer Robert Harting verteidigt seinen EM-Titel und tut seine Schuldigkeit als Selbstdarsteller. Er zerreißt sein Hemd diesmal nicht, sondern kuschelt sich hinein. Weitspringerin Melanie Bauschke erlebt hingegen ein Drama mit dem Kampfrichter.

Von Thomas Hahn, Zürich

Robert Harting, der Gestenreiche, senkte seinen mächtigen Körper über den Ring und küsste ihn. Sein letzter Versuch im Finale der Diskuswerfer bei der Leichtathletik-EM in Zürich war nicht der Rede wert gewesen, er war ihm zu flach aus der Hand gerutscht. Er wollte ihn gar nicht mehr messen lassen, und er brauchte ihn auch gar nicht. 66,07 Meter im dritten Versuch reichten dem Olympiasieger und dreimaligen Weltmeister auch schon, um seinen EM-Titel von 2012 zu verteidigen vor dem Esten Gerd Kanter (64,75) und dem Polen Robert Urbanek (63,81).

Es war das zweite Gold für den Deutschen Leichtathletik-Verband bei dieser EM, sozusagen eine Auftragsarbeit nach Maß, denn Harting war als hoher Favorit in den Wettkampf gegangen. Und es war für die Deutschen der versöhnliche Abschluss nach einem turbulenten Mittwoch bei Schweizer Regenwetter, an dem es zwar auch noch eine schöne Bronze-Medaille durch die Hürdensprinterin Cindy Roleder gab. An dem aber ansonsten auch einiges nicht sehr glücklich lief.

Tag 2 bei der Leichtathletik-EM
:Plötzlich 24 Zentimeter weniger

Zweiter Wettkampftag bei der Leichtathletik-EM: Ein Messfehler bringt Weitspringerin Melanie Bauschke vom Medaillenkurs ab. Der britische Olympiasieger Mo Farah gewinnt mühelos das Rennen über 10 000 Meter. Die schnellste Frau Europas kommt aus den Niederlanden.

Irgendwann geraten die Dinge in Gang bei einer großen Leichtathletik-Meisterschaft, langsam erst, fast schleppend, bis der Takt der Wettkämpfe dichter wird, immer dichter, und dann scheint plötzlich alles in Bewegung zu sein. So ist es auch an diesem zweiten Tag der Züricher EM gewesen, der schon früh am Morgen in der Innenstadt mit den Gehern begonnen hatte und nach diversen Vorkämpfen schließlich im Jubel der Abend-Gewinner mündete.

Es war in der Tat ein bewegter Mittwoch im Letzigrund, was nicht nur mit den Sportlern und ihren Medaillenjagden zu tun hatte. Am Nachmittag zog ein kleiner Sturm über dem Letzigrund auf, griff den Bäumen ins Laub und blähte die Banner im Stadion. Es war, als wollte die Natur auch ein Wort mitreden bei dieser EM, und tatsächlich beeinflusste der Wind das Tagesprogramm.

Die Zehnkämpfer mussten ihr Stabhochspringen unterbrechen, eilig holten die Schweizer Gastgeber die Fahnen ein und verschoben den Zeitplan für den Abend gehörig nach hinten. Aber bald war wieder der Sport Herr zwischen den Tribünen, wie ein bunter Bilderbogen entfaltete er sich vor den Betrachtern, und ließ auch die Farben des DLV zur Geltung kommen - wenn auch nicht ganz so strahlend wie gewünscht.

Es setzte die ersten richtigen Züricher EM-Enttäuschungen für die Deutschen: Keine deutsche Sprinterin qualifizierte sich für das 100-Meter-Finale, auch die 2010-Europameisterin Verena Sailer nicht, die als Fünfte in 11,24 Sekunden im Halbfinale hängen blieb. Bei den Männern schaffte immerhin der Berliner Lucas Jakubczyk als Gewinner seines Halbfinals den Sprung in den Endlauf, in dem er dann beim Sieg des Briten James Dasaolu (10,06) guter Fünfter wurde mit 10,25 - nicht aber Julian Reus, den die Leute vor zwei Wochen bei den nationalen Meisterschaften in Ulm noch als 10,05-Sprinter und deutschen Rekordler gefeiert hatten. 10,35, Halbfinal-Platz fünf.

Deutsche Zehnkämpfer bei der Leichtathletik-EM
:Ohne Rücksicht auf Eitelkeiten

Ein Musterschüler, ein Ausdauernder und ein Rückkehrer: Die deutschen Zehnkämpfer Kai Kazmirek, Rico Freimuth und Arthur Abele zeigen bei der Leichtathletik-EM in Zürich Erstaunliches. Und jeder prägt die Wettkämpfe auf seine eigene Weise.

Von Johannes Knuth

"Sehr, sehr, sehr, sehr schlecht", fand Reus. Er haderte mit dem Druck, den er nach dem Rekord gespürt hatte. "Sicherlich ist man nicht so befreit", sagte er, "man rennt 10,05, und sofort denkt jeder, man rennt im nächsten Rennen zehn Sekunden, aber so ist es halt nicht im Sport." Er war bedient. "Vor zwei Wochen hatte ich das höchste Hoch, das ich je hatte, und jetzt das tiefste Tief." Dann ging Julian Reus weg, hinein in den dichten Nebel seiner Enttäuschung.

Erfolg gibt es selten auf Bestellung in der Leichtathletik, schon gar nicht an einem Wettkampftag wie diesem, den Kälte und Nässe prägten. Auch die Weitspringerinnen mussten erleben, dass große Leistungen in der frühen Phase der Saison nicht zwingend Podestplätze beim Jahreshöhepunkt bedeuten. Platz vier für die junge Team-Europameisterin Malaika Mihambo mit 6,65 Metern war zwar keineswegs ein Reinfall im unwirtlichen Wetter. Aber sie ist in diesem Jahr eben auch schon 6,90 gesprungen, sowas weckt automatisch Erwartungen.

Außerdem musste sich Mihambos Berliner Kaderkollegin Melanie Bauschke am Ende des Tages als Opfer einer seltsam launischen Weitenmessung fühlen. Auf einem Medaillenrang stand sie laut Anzeige zunächst mit einem Satz auf 6,79 Meter, der aber dann irgendwie doch nicht mehr da war. Bittere Tränen weinte Melanie Bauschke über Platz sechs mit 6,55 Metern. Man konnte sie verstehen.

Der Wind trieb den Regen vor sich her, als blechern der Startschuss zum 100-Meter-Finale der Frauen ertönte und sich ein Sieglauf ereignete, bei dem Kenner in leisem Zweifel die Brauen hoben: Die junge Niederländerin Dafne Schippers, 22, bis zu dieser Saison im Grunde nur als Siebenkämpferin bekannt, schnellte in 11,12 Sekunden vor der Französin Myriam Soumaré (11,16) ins Ziel. Aber es blieb nicht viel Zeit, sich mit der Oranje-Frau zu befassen. Der Abend schritt voran, und bald setzte es auch den ersten Anlass für die DLV-Vertreter, sich zu freuen. Cindy Roleder aus Leipzig spurtete auf der 100-Meter-Geraden gierig über die Hürden. Und ein paar Augenblicke später bejubelte sie einen Bronze-Gewinn in 12,89 Sekunden hinter der Britin Tiffany Porter (12,76) und der Französin Cindy Billaud (12,79), der wie eine besonders nette Pointe wirkte zu einer Saison, welche die etablierte Hürdensprintkraft Rolder, 25, mit Ausflügen zum Siebenkampf garniert hatte. Auf der anderen Seite nahm Melanie Bauschkes Drama seinen Lauf. Und mittlerweile war auch Harting am Werk.

Langstreckenläuferin Jo Pavey
:Genusslauf der Super-Mami

Kann eine Frau mit 40 Jahren - nur zehn Monate nach der Geburt ihres zweiten Kindes - noch einmal Leichtathletik-Europameisterin werden? Selbstverständlich. Der Sieg der Britin Jo Pavey in Zürich beweist es.

Von Johannes Knuth, Zürich

Harting war in guter Gesellschaft an diesem Mittwoch, denn noch ein Olympiasieger hatte einen Pflichterfolg einzuholen: Mo Farah, der britische Langstreckler, was dieser dann auch relativ souverän tat mit einem etwas forscheren Finish in 28:08,11 Minuten vor seinem Landsmann Andy Vernon (28:08,66). Aber Harting startete nicht besonders gut. 63,94 Meter weit warf er den Diskus im ersten Versuch, der zweite war ungültig.

Die Zehnkämpfer um Kai Kazmirek rutschten aus den Medaillenrängen, das war noch mal wie ein Zeichen dafür, was alles schiefgehen kann. Dann gelang Harting der 66,07-Wurf, der seine Führung festigte, und weil es im nasskühlen Wetter nicht so wirkte, als wäre noch jemand in der Lage eine solche Weite zu erzielen, war das so etwas wie die Vorentscheidung. Wenig später ballte Harting die Faust. Er legte Hand an sein Hemd - und zerriss es nicht. Er zog es aus und kuschelte sich hinein wie in ein Kissen. Robert Harting, der Gestenreiche, hatte damit seine Schuldigkeit getan im kleinen großen Leichtathletik-Theater am Letzigrund.

© SZ vom 14.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: