Harry Kane in der Premier League:Der Stürmer, der Messi und Ronaldo abhängt

FC Burnley - Tottenham Hotspur

Routinierte Jubelpose: Harry Kane feierte in diesem Jahr 56 Treffer für Tottenham und England.

(Foto: dpa)

Von Sven Haist, London

Die Situation bot Harry Kane keine Zeit zum Nachdenken. Von der Intuition geleitet, sprintete der Stürmer der Tottenham Hotspur frontal auf die gegnerische Verteidigung zu, nahm das Tempo wieder raus, und schlich ins Zentrum des Strafraums. Die Verteidiger des FC Southampton waren vom Rhythmuswechsel irritiert, einer rückte ein paar Schritte heraus - und plötzlich stand Kane frei. Ein Mitspieler passte den Ball scharf in den Fünfmeterraum und Kane erzielte sein Tor. Mit dem linken Fuß, der als der schwächere von zwei guten Füßen gilt.

Englands TV-Sender haben diesen Treffer vor- und zurückgespult. Denn es war zwar nur das 2:0, es war ein einfach aussehender, aber kein gewöhnlicher Treffer. Es war Kanes Rekordtor. Und es bestätigte seine stärkste Qualität: Der 24-Jährige lebt davon, meist zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Die Fakten sind seit Dienstagnachmittag bekannt: Durch drei Treffer bei Tottenhams 5:2 gegen Southampton wird Kane das Kalenderjahr 2017 als erfolgreichster Torschütze Europas abschließen. Mit 56 Treffern in 52 Spielen für die Spurs und die englische Nationalmannschaft hat das Angriffsjuwel zwei Tore mehr geschossen als der zweitplatzierte Lionel Messi (FC Barcelona/Argentinien) und drei Tore mehr als Cristiano Ronaldo (Real Madrid/Portugal) auf dem dritten Rang. Die beiden Ausnahmekönner spielten diesen inoffiziellen Titel in den sieben Jahren zuvor jeweils unter sich aus. "Für mich ist es eine Ehre, mit diesen Spielern verglichen zu werden. Es war schwer, nicht über die Bestmarke nachzudenken. Ich bin sehr stolz darauf, es geschafft zu haben", sagt Kane.

Sein Instinkt, zu Gerd Müllers Zeiten Torriecher genannt, hat Kane zu einer Gefahr in allen Strafräumen werden lassen. Egal, wo sich der Mann mit der Trikotnummer "10" herumtreibt, ein unsichtbarer Leitstrahl scheint ihm den besten Weg zu signalisieren. Ebenso auffällig ist seine geschliffene Schusstechnik, Kane trifft aus jeder Distanz. Er ist schwer zu verteidigen, denn die 56 Treffer folgen keinem klaren Muster: 33 erzielte er mit dem rechten, 17 mit dem linken Fuß, sechs weitere per Kopfball. "Er ist Weltklasse", schwärmt sein Trainer, der Argentinier Mauricio Pochettino: "Es ist schwer zu sagen, ob er der beste Stürmer ist, aber er hat gezeigt, dass er definitiv einer der besten ist."

Unter Pochettinos Anleitung entwickelte sich Kane, der im Alter von elf Jahren zum Klub kam, weil ihn Tottenhams ewiger Rivale FC Arsenal ausgemustert hatte, zur Leitfigur im Team. Den Fans in bester Erinnerung sind seine beiden Treffer beim 2:1 im Februar 2015 gegen Arsenal, freudetrunken brüllten sie durchs Stadion: "He's one of our own". Trotz der leidvollen Erfahrungen mit Kane würdigte Arsenals Trainer Arsène Wenger nun dessen Leistung: "Er hat Spieler geschlagen wie Messi und Ronaldo, die für mich unschlagbar sind. Was er erreicht hat, ist fantastisch."

Kane bricht Bestmarke von 1995

Was seine zahlreiche Bewunderer am meisten fasziniert, schrieb die Times, sei, dass er sogar noch besser und besser werden kann. Der Arbeitseifer, die Disziplin und Demut, die Kane ungeachtet seines Talents aufbringt, machen ihn bei der anstehenden WM 2018 in Russland zum ersten Kandidaten fürs Kapitänsamt. Sollte Englands Nationalcoach Gareth Southgate ihn für die Rolle nominieren, würde Kane auch in dieser Hinsicht der Angriffsikone Wayne Rooney nacheifern. Seit dessen Rücktritt sucht England einen Nachfolger.

Dabei ging fast unter, dass Kane am Dienstag mit 39 Ligatreffern binnen eines Kalenderjahres die 1995 aufgestellte Bestmarke seines Landsmanns Alan Shearer überflügelte. Auf dem Weg zum Meistertitel mit den Blackburn Rovers erzielte Shearer damals 36 Tore. Im Massenblatt Sun schrieb Shearer: "Ich freue mich sehr, dass Harry meinen Rekord gebrochen hat. Wenn ich mir jemanden hätte aussuchen können, der mich überholt, wäre es ein junger englischer Stürmer gewesen." Im Gegensatz zu Shearer, der seine Treffer lieferte, wenn es am meisten darauf ankam, ist Kane diesen Beweis in seiner jungen Karriere noch schuldig. Einen Pokal hat er mit den Spurs bislang nicht gewonnen, in der Premier League wird sich das in dieser Saison wohl nicht ändern, zu groß ist schon nach der ersten Saisonhälfte der Punkte-Rückstand auf den in der Liga enteilten Tabellenführer Manchester City.

Tottenham könnte die Zeit weglaufen auf dem Weg zum Ziel, erstmals in der Klubgeschichte die Premier League zu gewinnen. Die zahlungskräftigere Konkurrenz beschäftigt sich damit, erste Abwerbungsversuche zu starten. Neben Kane stehen dessen Zuspieler Dele Alli und Christian Eriksen im Blickfeld. Kane, immerhin, besitzt einen Vertrag bis Sommer 2022.

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