Harry Kane:Immerhin ist er jetzt Boxing-Day-Rekordtorschütze

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Tottenhams Harry Kane applaudiert nach dem Spiel gegen Brentford. Sein Tor beruhigt die Debatten um seinen Fehlschuss bei der WM in Katar. (Foto: Kirsty Wigglesworth/dpa)

Harry Kane, bei der WM in Katar Englands Elfmeter-Pechvogel, trifft in der Premier League sofort wieder für Tottenham. Das hilft auch, die Debatten über seinen Fehlschuss zu beruhigen.

Von Sven Haist, London

Das Tor, das Harry Kane am Montag für Tottenham Hotspur im Spiel beim FC Brentford erzielte, sah viel schwieriger aus als jeder Elfmeter. Um die aus dem Halbfeld ohne viel Tempo und Präzision in den Strafraum gehobene Flanke seines Mitspielers Clément Lenglet zu verwerten, musste der Stürmer Kane sein ganzes Können aufbieten. Bedrängt von zwei Gegenspielern, sprang er im richtigen Moment ab und köpfelte aus rund acht Metern Distanz den Ball präzise und wuchtig in die von ihm entfernte Torecke. Die Kraft, die Kane dabei hinter den über seinem Kopf fast stehenden Ball brachte, veranschaulichte die besonderen Fähigkeiten des Angreifers. Allerdings schien ihn selbst der Treffer zum 1:2 (65.) mehr zu beflügeln als sein Team, das letztlich nicht über ein mageres 2:2 (0:1) in Brentford hinauskam. Pierre Emile Höjbjerg sicherte dem Tabellenvierten der Premier League sechs Minuten später nur noch das Remis - viel zu wenig, um die Konkurrenz ganz oben in Bedrängnis zu bringen.

Durch seinen insgesamt zehnten Treffer in sieben Partien an einem "Boxing Day", dem zweiten Weihnachtstag, ist Kane der Rekordtorschütze dieses so traditionellen Fußball-Feiertags in England. Und weil dieses Tor gegen das erst 2021 aufgestiegene Brentford fiel, hat Kane nun zudem gegen sämtliche 32 Klubs getroffen, gegen die er in der ersten Liga jemals antrat. Aber er wartet halt noch immer - mit Tottenham und mit der Nationalmannschaft - auf seinen ersten Titel. Bei Englands WM-Aus vor zwei Wochen im Viertelfinale gegen Frankreich war Kane in der Schlussphase ein entscheidender Strafstoß missraten. Vergebene Chancen gehören zwar wie verwertete Chancen zum Alltag eines jeden Torjägers. Doch warum, dürfte sich nicht nur Kane fragen, geht der Ball bei ihm eigentlich trotz seiner vorzüglichen Abschlussqualitäten meist nicht rein, wenn es wirklich drauf ankommt?

Kane kann froh sein, dass der Ligabetrieb die täglichen Debatten über sein Malheur in Katar beendet

Vermutlich ist er selbst ganz froh, dass diese ziemlich interessante Frage durch die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Premier League erst mal nicht mehr intensiv weiterverfolgt wird. Denn zuletzt drehten sich die Debatten auf der Insel pausenlos um ihn. Fast täglich schilderte einer der zahlreichen Fußballkritiker im Land seine Sicht dazu. Selbst die Kollegen bei Tottenham gaben auf Nachfrage bereitwillig Auskunft über Kane, ebenso Tottenhams Trainer Antonio Conte. Obwohl der Italiener der Ansicht war, sich um Kane "nicht sorgen" zu müssen und sagte, dass es besser wäre, sich nicht weiter zu äußern, ging er dann doch ziemlich ausführlich auf das Thema ein.

Conte wiederholte dabei den mittlerweile gängigen Kalauer, niemals einen Elfer in seiner Karriere verschossen zu haben - weil er zu keinem einzigen je antrat. Und er betonte, als Spieler selbst mit Italien das WM-Finale 1994 gegen Brasilien im Penaltyschießen verloren zu haben. Die Pointe lag bei diesem Vergleich auf der Hand: Roberto Baggio jagte damals den letzten Elfmeter für Italien auf nahezu identische Weise so weit über das Tor wie zuletzt Kane für England.

Schwieriger als jeder Elfmeter: Englands WM-Pechvogel Harry Kane trifft per Kopf zum Anschlusstor für Tottenham. (Foto: Matthew Childs/Reuters)

Dass Conte diese Anekdote vor dem Ligaduell mit Brentford von sich aus erstaunlich breittrat, veranschaulichte erneut, wie lange solche Missgeschicke mit einem Spieler verbunden bleiben. Im konkreten Fall hängt Harry Kane ja nicht nur dieser eine England-Elfmeter in Katar nach, sondern auch eine monumentale Doppelchance im Halbfinale der WM 2018. Seinerzeit verpasste Kane das vorentscheidende zweite Tor gegen die Kroaten, die das Spiel stattdessen in der Verlängerung gewannen und ins Endspiel einzogen. Auch deshalb wartet England seit dem bisher einzigen Titel bei der Heim-WM 1966 weiterhin vergeblich auf einen Turnierpokal.

Trotz all der Enttäuschungen steckt Kane, der wegen seines einwandfreien Auftretens zu Recht als Musterprofi gilt, niemals auf. Einmal mehr nahm er auch nach der Katar-Reise überpünktlich seinen Dienst auf. Er überraschte seine Mitspieler, als er nach nur zehn freien Tagen am vorigen Mittwoch bei einem Testspiel in der Halbzeitpause plötzlich in der Teamkabine auftauchte - und damit signalisierte, wieder bereit für die Vereinsarbeit zu sein.

Mit dem Auswärtsspiel in Brentford wartete auf Kane und seine Kollegen gleich harte Arbeit. Vor dem unkonventionellen Fußballstil des Londoner Vorstadtklubs, dessen Spieler quasi jeden Ball direkt nach vorn schlagen, fürchten sich insbesondere die Spitzenvereine, weil ihnen dadurch jederzeit die Kontrolle über das Spiel entgleiten kann. Von Entgleiten konnte bei den Spurs allerdings keine Rede sein - denn sie strahlten erst gar keine Dominanz aus.

Beinahe hätte daher bereits nach 54 Minuten ein Sieg für Brentford festgestanden: Nach einem Eckball, den Tottenhams Eric Dier mit einem haarsträubenden Querschläger verursacht hatte, drückte Brentfords Torjäger Ivan Toney den Ball zum 2:0 über die Linie. Ähnlich mau waren die Spurs schon in die erste Halbzeit gestartet. Da gelang dem Deutschen Vitaly Janelt, der seinen Durchbruch beim VfL Bochum hatte, das frühe 1:0 (15.). Brentfords banaler Spielzug: Befreiungsschlag, Kopfballduell, Flanke, Volleyschuss, Abstauber, Tor.

Die aussichtsreichste Aktion der Gäste blieb bis zum Anschlusstor von Kane und der damit verbundenen Aufholjagd ein Freistoß, ebenfalls von Kane getreten, der bezeichnenderweise in der Mauer hängen blieb. Neben der lange ausbleibenden offensiven Unterstützung seiner Teamkollegen ärgerte Kane diesmal vor allem die tief stehende Wintersonne in London. Sie blendete ihn mehrmals im Gesicht.

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