Es schien einzig eine Frage der Spielminute zu sein, in der Harry Kane sein 100. Länderspiel für England mit einem eigenen Treffer krönen würde. Denn nichts fällt dem Rekordtorschützen seines Landes gegebenenfalls leichter, als den Ball über die Torlinie zu schießen. Und Englands Nations-League-Spiel gegen Finnland im Nationalstadion Wembley stand ganz im Zeichen des Jubilars. Immer wieder blickten die Teamkollegen auf dem Platz zu Kane, sie spielten am Dienstagabend mindestens so sehr für ihn wie für die Mannschaft.
Ein paar Torannäherungsversuche benötigte Kane – vielleicht, um zumindest etwas Spannung aufzubauen. Dann vollzog sich, was ohnehin jeder im Stadion ahnte: Tor von Kane! Eines in der 57. Minute, eins in der 76. Minute, beide aus der Drehung im Strafraum, knallhart und präzise mit rechts, wie er schon unzählige Male zuvor getroffen hatte. Womöglich hätte der Angreifer des FC Bayern seinen Doppelpack noch zu einem Hattrick aufgestockt, wenn ihn Interimstrainer Lee Carsley nicht in der 80. Minute ausgewechselt hätte. Er habe dem Publikum die Chance bieten wollen, ihren Kapitän in dieser besonderen Nacht zu würdigen, erklärte Carsley.
Auch das Ergebnis wirkte wie eine Hommage an den Stürmer: 2:0, Kane, Kane. Schon bei der Ehrung vor dem Anpfiff hatte es Standing Ovations gegeben. Englands Publikumsliebling lief mit den Töchtern an der Hand ein, beide trugen ein England-Shirt mit dem Rückenaufdruck „Daddy“ und „100“ – statt Kanes üblicher Torjägernummer 9. Die ehemaligen Nationalspieler Ashley Cole und Frank Lampard, die Englands elitärem Kreis mit mindestens 100 Einsätzen angehören, überreichten ihm eine goldene Kappe; caps ist auch der englische Ausdruck für Länderspieleinsätze.
Das Präsent erweiterte gewissermaßen Kanes Goldsammlung, in Anbetracht seiner vielen goldenen Torjägerpokale hat er inzwischen wohl mehr Gold zu Hause als jeder Goldgräber. Der 31-Jährige ist der insgesamt zehnte Fußballer, der die 100er-Marke in England erreicht hat. Den Rekord hält weiterhin Torwartlegende Peter Shilton (125 Spiele), ihn könnte Kane bei der WM 2026 einholen. Das sei weit mehr, als er sich als Kind je hätte erträumen können, sinnierte Kane. Manchmal falle es ihm schwer, das alles zu begreifen.
68 Tore in 100 Länderspielen sind Kanes neue Länderspielbilanz
Sein Debüt hatte Kane im EM-Qualifikationsspiel gegen Litauen im März 2015 gegeben. 79 Sekunden benötigte er nach seiner Einwechslung für sein erstes Tor. Schon damals erschienen viele weitere Kane-Treffer unausweichlich – welche Länderspiellaufbahn geht schon so los? Diese Treffsicherheit fasste nun der Länderspieldebütant Noni Madueke, der Kanes zweiten Treffer gegen Finnland vorbereitete, poetisch zusammen: Wenn man Kane im Strafraum den Ball gebe, schenke der einem einen Assist, sagte Madueke.
Damals, in seinem ersten Spiel, ersetzte Kane in der Schlussphase den Routinier Wayne Rooney. Dieser Spielertausch war weit mehr als ein Generationswechsel im Sturm der Engländer, er symbolisierte gewissermaßen einen Kulturwandel in der Nationalmannschaft. Unter seiner Führung schlug das Team fortan bedachtere Töne an, Kane geht eher nicht mit dem Kopf durch die Wand, wie Rooney einst häufig den Eindruck vermittelte. Kane ist Vorbild, auf und neben dem Platz. Seine Professionalität und Verbindlichkeit färben ab.
68 Tore in 100 Länderspielen sind Kanes neue Länderspielbilanz. Die Anerkennung ist ihm längst nicht nur in der Heimat gewiss. Finnlands Torwart Lukas Hradecky, der sich mit seinen Paraden lange tapfer gegen einen Kane-Treffer wehrte und letztlich doch chancenlos war, fand: „Die Statistik, die Spiele, all die Aktionen und der Einfluss, den er auf seine Mannschaften hat, machen Kane zu einem großen Spieler.“
Harry Kanes nächstes Ziel sind nun 100 Länderspieltore, kündigte er an. Es dürfte kaum jemanden geben, der dagegen wetten würde.