Da war zunächst diese Stille, die den gesamten Nachmittag über der Stadt lag. Eine Stille, die eine seltsame Schwingung in sich trug, wie bei einem Gewitter, das in der Ferne aufzieht und sich dann in Blitz und Donner entlädt. Da waren auch die gepanzerten Wasserwerfer, die ums Rostocker Ostseestadion postiert waren, für alle Fälle. Der Hubschrauber, der über dem Areal kreiste, oder die Wolken aus pyrotechnischen Erzeugnissen, die den Fußmarsch zur Spielstätte fast infernalisch umwaberten.
Von einem "Hochrisikospiel" sprechen die Einsatzleiter der Polizei in einem solchen Fall, vom "Zweitliga-Spitzenspiel" die Programmdirektoren aus den Fernsehanstalten, von der langersehnten Rückkehr des Ostfußballs die Fußballromantiker und Traditionalisten. Es handelt sich keinesfalls um eine gewöhnliche Partie, wenn der FC Hansa und Dynamo Dresden aufeinandertreffen, das war zuvor überall zu spüren. Am Samstagabend zeigte sich das geschichtsträchtige Duell wieder von seiner schönsten, aber auch von seiner garstigen Seite: Vor dem Anpfiff kam es zu Ausschreitungen zwischen den Fangruppen, etwa 180 Personen seien bei einem größeren Einsatz festgesetzt worden, meldete die Rostocker Polizei. In der Mehrheit waren es Dresdner Randalierer, denen in der Folge der Zutritt zum Spiel verwehrt blieb.
Dynamo war früher das Zugpferd des Ostfußballs
"Hier regiert die SGD", lautete gleichwohl der Schlachtruf der Dynamo-Fans im Stadion, als der Schlusspfiff ertönt war und sich ihre Mannschaft geschlossen vor dem dem Auswärtsblock platzierte, um den 3:1-Erfolg über den Erzrivalen zu zelebrieren. Eigentlich kaum zu glauben, dass die beiden Lager vor der deutsch-deutschen Vereinigung mal in inniger Freundschaft verbunden waren. Doch wer weiß, vielleicht bleibt das Schicksal von Dynamo und Hansa genau deshalb auf fast schicksalshafte Weise miteinander verbunden. In der vergangenen Saison schafften die beiden Vereine den Sprung zurück in die Zweitklassigkeit, es war ihr dritter gemeinsamer Aufstieg seit der Einheit - und das genau drei Jahrzehnte, nachdem die Hansekogge und die Sportgemeinschaft Dynamo aus der DDR-Oberliga ins gesamtdeutsche Oberhaus entsandt worden waren.
Die historische Parallele wurde vielerorts als Signal für ein Comeback des echten, authentischen Ostfußballs gedeutet, weil dieser in der ersten Liga lediglich durch das Retortenprodukt RB Leipzig und den zwar traditionsreichen, aber lange Zeit wankelmütigen 1. FC Union Berlin repräsentiert wird. Dynamo hingegen war früher eines der Vorzeigeteams im Osten, was sicherlich auch Erwähnung fand in einer Motivationsrede des ehemaligen Dresdner Spielers und aktuellen Co-Trainers Heiko Scholz. "Scholle", berichtete aktuelle Chefcoach Alexander Schmidt, habe vor der Partie gegen Hansa noch einmal über den Stellenwert des Duells aufgeklärt - "für die Fans, für die Stadt, für den Verein".
Es war dann vor allem die Kraft flammender Hansa-Herzen auf den Rängen, die dazu beitrug, dass das Spiel von Beginn an zu einer temporeichen Angelegenheit wurde. Die 15 000 Fans im Ostseestadion machten einen Radau, den anderswo nicht mal die doppelt so große Kulisse hinbekäme.
Dynamo-Sportchef Ralf Becker hat ein homogenes und junges Team zusammengestellt
Trotz der "fanatischen Atmosphäre", die Hansa-Trainer Jens Härtel in ehrfürchtigem Ton hervorhob, war bei Dynamo nichts von szenischer Angst zu spüren. Im Gegenteil. Gerade einmal 40 Sekunden waren gespielt, als die Gäste nach einem blitzsauberen Angriff und einem kuriosen Ping-Pong-Abschluss in Führung lagen: Nach einer doppelten Rettungstat von Rostocks Torwart Markus Kolke traf Dynamo-Mittelfeldmann Heinz Mörschel im Fallen mit irgendeinem Körperteil zum 1:0. Mörschel, 23, im Winter aus Uerdingen gekommen, ist einer von vielen talentierten Zugängen, die Sportchef Ralf Becker verpflichtete, um den Aufsteiger über Unbeschwertheit und jugendlichen Tatendrang in der zweiten Liga zu etablieren. Der gebürtige Baden-Württemberger Becker, der seit einem Jahr bei Dynamo arbeitet, durfte also als persönliches Lob für seine schlüssige Kaderplanung verstehen, was Cheftrainer Schmidt nach dem Spiel sagte: Er könne sich nicht erinnern, mal einen Spieler eingewechselt zu haben, "der nicht performt hat".
Das Dresdner Team behielt seine kollektive Seelenruhe selbst dann, als die Angriffswellen des Gegners immer häufiger anbrandeten, wie etwa nach dem verdienten Ausgleich durch Hansa-Angreifer Streli Mamba kurz vor dem Pausenpfiff. So hatten die Dresdner am zweiten Spieltag bereits dem fußballerisch dominanten Hamburger SV ein Remis abgetrotzt, so konnten sie auch den kampfstarken Rostockern genug entgegenhalten.
"Das ist die Serie der Mannschaft", sagte der seit zwölf Spielen ungeschlagene Dynamo-Trainer
Ins Bild passte ebenso, dass die weiteren Tore der eingewechselte Panagiotis Vlachodimos und der sorglos aufspielende Julius Kade, 22, erzielten - sowie die Tatsache, dass der von Schmidt stets beschworene Kollektivgeist keine wohlklingende Phrase ist, sondern vom Trainer vorgelebt wird. Saisonübergreifend hat Schmidt, der den Klub in einer Eineinhalb-Monate-Mission von der Drittklassigkeit erlöste, noch keines seiner zwölf Spiele als Dynamo-Coach verloren. Dies sei allerdings nicht sein persönliches Verdienst, sagte er: "Das ist die Serie der Mannschaft. Die ist ungeschlagen." Diese Mannschaft steht eine Liga höher nun auf dem zweiten Tabellenplatz, musste gegen Rostock aber auch den Kreuzbandriss ihres Vize-Kapitäns Tim Knipping verkraften, wie sich später herausstellte. Knipping wird Dynamo mehrere Monate lang fehlen.
Das jedoch war am Samstagabend nur eine Randnotiz, die Aufmerksamkeit aller Beteiligten galt einzig und allein dem Ostderby. Und das in all seinen Facetten: Nach dem Spiel wurden die Dynamo-Anhänger von einem gewaltigen Polizeiaufgebot zurück zum Rostocker Bahnhof eskortiert, dennoch kam es vereinzelt zu Steinwürfen und gesplitterten Glasscheiben. Verletzt wurde immerhin niemand. Damit kann die Rückkehr des echten, authentischen Ostfußballs als zumindest teilweise geglückt gelten - bis auf den Teil, den niemand braucht.