Süddeutsche Zeitung

HANDBALL-WM:Wenn der Geysir ausbricht

Trotz der WM-Pleite hatten die deutschen Handballer ein Alibi im Gepäck: Der Abwehrblock des THW Kiel fehlte. In der Olympia-Qualifikation muss Bundestrainer Gislason dieses Bollwerk ins Nationalteam reintegrieren, das er beim THW einst selbst entwickelt hat.

Von Klaus Hoeltzenbein

Alfred Gislason hatte genug gesehen. Er drückte den roten Buzzer am Spielfeldrand. Ein Summton unterbrach das wilde Treiben, 11:14-Rückstand gegen Polen, und dies kurz nach der Tagesschau. Eine Gruselshow zur besten Sendezeit, in der die deutschen Handballer eigentlich mal wieder ein bisschen Werbung für eine Sportart machen wollten, in der seit fast einem Jahr die Hallen leer sind. Und dann dies, eingefangen von den Mikrofon-Angeln, die in so eine kurze Teambesprechung hineinranken: "Hey, Jungs", startete Gislason, "ihr könnt erzählen, was ihr wollt, aber verdammt noch mal, wir haben jetzt vier technische Fehler gemacht, ja, in diesen paar Minuten - und einer dümmer als der andere." Und so ging es weiter, kurz, präzise, direkt, ehrlich, für manchen Spieler sicher ein bisschen schmerzvoll. Gemessen daran, dass Gislason Isländer ist, vom Naturell also eher reserviert, war soeben der Große Geysir ausgebrochen.

Der letzte Eindruck bleibt, und ausgerechnet das letzte Turnierspiel der Deutschen gegen die im Neuaufbau befindlichen Polen (23:23) war ihr schlechtestes. Als Bilanz stehen ansonsten zwei Siege (Brasilien, Uruguay), zwei Niederlagen (Ungarn, Spanien) und das bislang schlechteste Abschneiden einer deutschen WM-Mannschaft zu Buche. Gut für die geplagte Sportart ist nur, dass all dies schon in Kürze korrigiert werden kann. Durch ein Olympiaticket, denn vom 12. bis 14. März ist in Berlin die Qualifikation angesetzt; aus einer Gruppe mit Schweden, Slowenien und Algerien dürfen die besten beiden im Sommer nach Tokio.

Das Spiel gegen Spanien offenbarte die hellsten und dunkelsten Momente

An der Einschätzung, dass die Deutschen in Gislason, 61, den richtigen Trainer für diese Duelle haben dürften, hat sich bei der WM nichts geändert. Schon lange vor der Reise nach Ägypten aber war bekannt, dass sie keine Weltklasse im Angriff haben, keine Kanoniere, die die Dinge notfalls im Solo regeln können wie der Norweger Sander Sagosen oder der Däne Mikkel Hansen. Sie müssen ihre Lösungen über die Launen aus der Gruppe finden. Dies gelang beispielhaft, als sie in ihrer besten Turnierviertelstunde gegen Spanien einen 13:16-Halbzeitrückstand in eine 25:22-Führung verwandelten. Aber es ging beispielhaft daneben, als sie sich plötzlich wieder in Männer mit Zitterhänden zurückverwandelten, die in der Schlussviertelstunde nur noch drei Törchen zu Wege brachten.

Man sollte Mannschaften jedoch immer an ihren Höhen messen. Und einen Trainer daran, wie oft es ihm gelingt, eine Mannschaft zu diesen Höhen zu führen. Obwohl es in Ägypten lange ignoriert wurde, so hatte die Expedition doch ein stichhaltiges Alibi im Gepäck: Je deprimierender sich der Turnierverlauf gestaltete, desto häufiger wurde dieses Alibi aktiviert und darauf verwiesen, dass das Prunkstück des deutschen Handballs - der Abwehrblock des THW Kiel (Pekeler, Wiencek, Weinhold) - nach dem Champions-League-Gewinn und unter Verweis auf Corona-Gefahren zu Hause geblieben war.

Und nun wird es ein bisschen kurios: Zur Olympia-Qualifikation muss Gislason, der in Kiel von 2008 bis 2019 sehr eindrucksvolle Trainerjahre hatte, ein Bauteil ins Nationalteam reintegrieren, das er beim THW einst selbst entwickelt hat. Denn Olympia in Tokio, ob es nun stattfindet oder nicht, sollte diese Auswahl nicht verpassen. Sonst bricht in diesem Sport so vieles und nicht nur der Geysir aus.

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