Süddeutsche Zeitung

Handball:Das WM-Wagnis

  • Bundestrainer Prokop verzichtet für die Handball-WM auf Tobias Reichmann - und geht damit erneut ins Risiko.
  • Reichmann ist gelernter Rechtsaußen und ein sehr sicherer Siebenmeterschütze.
  • Ohne ihn wäre Deutschland 2016 kaum Europameister geworden.

Von Carsten Scheele, Kiel/Hannover

Christian Prokop hat zuletzt stets ein Lächeln aufgesetzt, wenn er auf die missratene Handball-Europameisterschaft vor einem Jahr angesprochen wurde, und mit fester Stimme erklärt, dass er seine Lehren gezogen habe. Er wolle und werde die gleichen Fehler nicht noch einmal begehen, versicherte der 40-Jährige: Er habe die Mannschaft vor dem Turnier 2018 mit seinen Ideen "überfordert", werde künftig mehr auf drohende Stimmungsschwankungen achten. Bei der Nominierung seines EM-Kaders hatte Prokop wichtige Spieler überraschend zu Hause gelassen; er habe damals die bewährten Hierarchien missachtet, sagte Prokop gerade dem Spiegel: "Dass dies ein Team schwächen kann, war mir vorher nicht so klar bewusst." Daraus habe er gelernt.

Dies zur Vorgeschichte, denn nun hat es Prokop doch wieder getan. Vier Tage vor Beginn der Heim-WM (10. bis 27. Januar) hat er die Mannschaft eines Pfeilers beraubt und so Erstaunen ausgelöst. 18 Spieler hatte der Bundestrainer zuletzt um sich versammelt, mit 16 darf er zur WM fahren. Bei den finalen Streichungen am Sonntag traf es wie erwartet Tim Suton, den jungen Lemgoer Mittelmann; eine vertretbare Entscheidung, denn Suton war hinter Martin Strobel und Fabian Wiede ohnehin nur als Mittelmann Nummer drei eingeplant.

Völlig unerwartet traf es aber auch Tobias Reichmann, den 30 Jahre alten Rechtsaußen der MT Melsungen, einen jener Pfeiler des Nationalteams, die Prokop ausdrücklich unangetastet lassen wollte. Nun droht Unruhe, und Prokop hat nur wenig Zeit bis zum Eröffnungsspiel gegen Korea (Donnerstag, 18.15 Uhr), um sie einzufangen.

Ohne Reichmann wäre Deutschland 2016 nicht Europameister geworden

Es hätte ja kaum überrascht, wäre Prokop bei seiner Suche nach dem zweiten Streichkandidaten bei Franz Semper angelangt, dem mit 21 Jahren jüngsten Spieler des Aufgebots. Für Semper war schon die Berufung in den 18er-Kader ein großer Erfolg, und wie Suton ist auch Semper auf seiner Position nur die Nummer drei hinter Steffen Weinhold und Fabian Wiede. Statt Semper operiert Prokop nun Reichmann heraus aus einem Teil der Mannschaft, der zuvor als gesetzt galt und um den er sich eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte. Gemäß der reinen Nominierungslehre hatte er sich für die Außenpositionen auf zwei Duos festgelegt: links Kapitän Uwe Gensheimer und sein junger Herausforderer Matthias Musche, rechts Patrick Groetzki und eben Reichmann, zwei erfahrene Sprinter und Zwirbler, die ihre Tauglichkeit für große Turniere mehrmals unter Beweis gestellt haben.

Der Kader des Deutschen Handballbundes

Tor: Andreas Wolff (Kiel), Silvio Heinevetter (Berlin)

Linksaußen: Uwe Gensheimer (Paris St. Germain), Matthias Musche (Magdeburg)

Rückraum links: Finn Lemke (Melsungen), Fabian Böhm (Hannover-Burgdorf), Steffen Fäth (Rhein-Neckar Löwen)

Rückraum Mitte: Martin Strobel (Balingen-Weilstetten), Fabian Wiede, Paul Drux (beide Berlin)

Rückraum rechts: Steffen Weinhold (Kiel), Franz Semper (Leipzig)

Rechtsaußen: Patrick Groetzki (Rhein-Neckar Löwen)

Kreis: Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler (beide Kiel), Jannik Kohlbacher (Rhein-Neckar Löwen)

So wäre das DHB-Team ohne Reichmann 2016 sicher nicht Europameister geworden, allein schon wegen des für Herzanfälle prädestinierten Halbfinales gegen Norwegen, das das DHB-Team durch ein Tor von Kai Häfner in letzter Sekunde der Nachspielzeit 34:33 gewann. Dank Reichmann hatte sich Deutschland überhaupt in die Verlängerung gerettet, zehnmal hatte er an diesem Tag ins Tor getroffen, fünfmal davon von der Siebenmeterlinie. Weil er in diesem Turnier generell viele Siebenmeter verwandelte, wurde er bester Torschütze des neuen Europameisters, sogar zweitbester Schütze des gesamten Turniers, mit 46 Treffern knapp hinter dem Spanier Valero Rivera. Als der Europäische Handball-Verband (EHF) sein All-Star-Team bekannt gab, wurde Reichmann zu Recht als bester Rechtsaußen nominiert.

Auf diesen Mann verzichtet Prokop nun, was die Mannschaft auf den ersten Blick in zweierlei Hinsicht vor Probleme stellt. Zunächst hat Prokop in Groetzki nur noch einen gelernten Rechtsaußen im Kader. Zwar können im Handball üblicherweise auch die Halbrechten mal auf der Außenposition aushelfen, doch sind Wiede, Weinhold und Semper schon ziemlich eindeutig Rückraumspieler. Weinhold und Wiede werden zudem auch auf der Mittelposition gebraucht. Groetzki, 29, kann sich schon jetzt darauf einstellen, dass er weite Teile der fünf Vorrundenspiele auf der rechten Flanke durchackern muss, in denen es unter anderem gegen Schwergewichte wie Weltmeister Frankreich, Russland oder Serbien geht.

Reichmann wird auch fehlen, weil er ein exzellenter Siebenmeterschütze ist. 26 seiner 29 Versuche hatte er während der EM 2016 im Tor untergebracht; Prokop setzt nun primär auf die Strafwurfkünste von Kapitän Gensheimer, der allerdings schon einmal ins Zaudern geriet, bei der EM vor einem Jahr, als er unerklärliche Formschwankungen durchlitt und auch viele Siebenmeter vergab. Auf einen Back-up wie Reichmann zu verzichten: ein Wagnis.

Zwar darf Prokop während des Turniers Spieler nachnominieren; Reichmann gilt nun als erster Kandidat, sollte sich die Ein-Mann-Kalkulation für rechts außen doch als zu knapp erweisen. Reichmann würde diesem Ruf folgen - wie es dann aber um sein Selbstvertrauen bestellt sein wird? Das lässt sich zumindest ahnen.

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SZ vom 07.01.2019/ebc
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