Handball-WM:Plötzlich bricht Chaos aus

Fassungslos reagiert die deutsche Handball-Nationalmannschaft auf das Aus im WM-Achtelfinale. Wieso unterlaufen dem Weltklasse-Team reihenweise Anfängerfehler?

Von Felix Meininghaus, Paris

Holger Glandorf ist fassungslos. Der Rückraumschütze war nachträglich nach Frankreich aufgebrochen, um die deutschen Handballer auf ihrem Weg zu einer WM-Medaille zu verstärken. Und dann so etwas: 20:21 gegen Katar, das Aus schon im Achtelfinale der Weltmeisterschaft kommt völlig unvermittelt und trifft die deutschen Handballer schwer. Minuten nach dem Spielende wird der Routinier gefragt, wie so etwas möglich sei. Glandorf schüttelt den Kopf, sein Blick leer, der Flensburger ringt um Fassung: "In unserer Mannschaft haben doch alle Spieler Erfahrung aus der Bundesliga und der Champions League."

Es fällt Deutschlands Handballern sichtlich schwer, das Desaster einzuordnen. Gibt es irgendeine Erklärung? Julius Kühn, ein Koloss von einem Sportler, vergräbt bei der großen Pressekonferenz vor versammelter Öffentlichkeit das Gesicht in seinen riesigen Händen: "Sorry, ich kann nichts zum Spiel sagen." Als die Reporter an ihm vorbeidrängen, um die Statements von Bundestrainer Dagur Sigurdsson einzufangen, erhebt sich der baumlange Rückraumschütze. Kühn, dieser nach außen harte Kerl, hat Tränen in den Augen.

Wie konnte das nur passieren? Das deutsche Team hatte fast die gesamte Spieldauer über geführt und sich am Ende von der zusammengekauften Söldnertruppe aus dem Emirat noch abfangen lassen, weil in der hektischen Schlussphase die Nerven versagten.

Schon zuvor hatten sich Schwächen offenbart, die kaum einer erwartet hatte. Nicht nach den Erfolgen von 2016 mit dem EM-Titel und Platz drei bei Olympia. Nicht nach fünf souveränen Siegen in der Vorrunde. Während die Abwehr sicher stand und Torhüter Andreas Wolff mit einer Weltklasseleistung glänzte, unterliefen der deutschen Auswahl in der Offensive technische Fehler und mentale Unzulänglichkeiten. 15 Ballverluste durch teilweise anfängerhafte Fehlpässe, 14 Fehlwürfe aus dem Rückraum - das sind unterirdische Werte, die viel darüber sagen, wie weit dieses Weltklasseteam an diesem Abend im Palais Omnisports de Paris-Bercy von seiner Normalform entfernt war.

"Ein paar technische Fehler sind ja okay", sagt Rückraumspieler Steffen Fäth, "aber in dieser Menge habe ich das noch nicht erlebt." Er wisse selbst nicht, "wie so etwas passieren kann", sagt Patrick Wiencek, "das ist auf jeden Fall ein bitterer Rückschlag".

Das Ausscheiden gegen Katar trifft die deutsche Mannschaft wie ein Keulenschlag. Es ist auch eine herbe Niederlage für Trainer Dagur Sigurdsson, der in Paris sein letztes Spiel als Bundestrainer erlebte und in den 60 Minuten wie nie zuvor an seine Grenzen stieß. Dem Erfolgstrainer, der in der Vergangenheit zu Recht dafür gerühmt wurde, ein ausgewiesener Taktikfuchs zu sein, der immer einen Plan B oder gar einen Plan C in der Tasche hat - ihm gingen gegen die Katarer die Ideen aus. Als seine Mannschaft ins Trudeln geriet und selbst einfachste Abläufe abhandenkamen, die Spieler internationalen Formats normalerweise im Schlaf beherrschen, stand der Bundestrainer ratlos an der Seitenlinie und konnte seinen taumelnden Spielern keinen Halt geben.

Sigurdsson räumt Fehler ein

Nach dem Ausscheiden räumt Sigurdsson Fehler ein. Zum Beispiel habe er es versäumt, in der letzten Spielminute, als die deutsche Mannschaft jegliche Kontrolle über das Spielgeschehen verloren hatte, eine Auszeit zu nehmen und seine verunsicherte Mannschaft noch einmal neu einzustellen: "Da habe ich gezögert."

Bei seiner Analyse behält es der 43-Jährige allerdings für sich, dass dies eine seiner geringeren Nachlässigkeiten war. Viel schwerer wog die Entscheidung, den völlig indisponierten Steffen Fäth bis zum bitteren Ende im Spiel zu lassen. Dabei hatte Sigurdsson immer wieder die vielen Alternativen gerühmt, die sein Kader biete. Warum er dann einem Spieler vertraute, der für jeden erkennbar einen hundsmiserablen Tag erwischt hatte, wird ein Geheimnis bleiben, das Sigurdsson mit zu seinem neuen Arbeitgeber nach Japan nimmt.

Auch für die Abwehr hatte er keine Lösung parat, als Wiencek das Spielfeld zehn Minuten vor dem Ende nach seiner dritten Zeitstrafe verlassen musste. Es brach fast Chaos aus hinten drin. Der eingebürgerte Kubaner Rafael Capote, den die Deutschen so lange erfolgreich gestoppt hatten, erzielte vier der letzten fünf Tore und wurde damit zum Matchwinner. Niemand hielt ihn mehr auf, dabei waren die Deutschen in der ersten Hälfte noch so erfolgreich damit gewesen, den wurfgewaltigen Rückraumspieler kurz zu decken und ihm so den Spaß am Spiel zu nehmen. Doch als es um alles ging, waren die Spieler, die sich selbst so gerne als "Bad Boys" bezeichnen, zahm wie Chorknaben.

Torhüter Wolff, der den Untergang trotz einer Quote von 48 Prozent gehaltener Bälle nicht verhindern konnte, geht hernach mit seinen Kollegen hart ins Gericht. Einige seien gedanklich nicht auf der Höhe gewesen, "vielleicht waren sie mit dem Kopf schon beim Halbfinale gegen Frankreich". Gerät da der bislang so innig gelebte Teamgeist ins Wanken? Wird diese noch junge Gemeinschaft aus diesem Rückschlag lernen? Oder gerät das bislang so stabile Gefüge nachhaltig aus dem Gleichgewicht?

Auf den neuen Bundestrainer, der aller Voraussicht nach Christian Prokop heißen wird, wartet ein anspruchsvoller Job. Routinier Holger Glandorf wird das von außen beobachten, er dürfte seine Länderspiel-Karriere beenden. Der Flensburger glaubt trotz des Rückschlags weiter an eine glorreiche Zukunft: "Ich hoffe, die Jungs lernen daraus und kommen gestärkt wieder."

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