Ab Mitte Dezember geht Alfred Gislason höchst ungern ans Telefon. Es kommt einfach selten etwas Gutes dabei heraus: Meist meldet sich ein Spieler, den der Handball-Bundestrainer in seinen Kader für das große Januar-Turnier beordert hat, und verkündet eine Verletzung. Dann drückt Gislason sein Bedauern aus, muss einen Moment später aber entscheiden, welchen Profi er nachnominiert. Solch ein Mitte-Dezember-Kader hat im Handball manchmal nur eine geringe Halbwertszeit.
Vor der Drei-Länder-Weltmeisterschaft in Dänemark, Norwegen und Kroatien, die für das deutsche Team am 15. Januar in Herning/Dänemark mit der Partie gegen Polen beginnt, hat Gislason zwei solche Anrufe erhalten. Sowohl den Rückraumspieler Sebastian Heymann als auch Kreisläufer Jannik Kohlbacher (beide Rhein-Neckar Löwen) hätte der Isländer gern dabeigehabt, insbesondere wegen ihrer starken Abwehrarbeit. Doch Heymann leidet unter einer Fußverletzung, Kohlbacher steht eine Operation am Ellenbogen bevor. Ihr Mitwirken an der WM ist in beiden Fällen ausgeschlossen.
Danach ging es für Gislason mit einer ausnahmsweise heiteren Telefonepisode weiter. Wegen des Kohlbacher-Ausfalls wollte er den Magdeburger Kreisläufer Tim Zechel nachnominieren, rief auf dessen Handy an – doch niemand meldete sich. 24 Stunden Funkstille, Zechel hatte nicht mehr mit einem Anruf gerechnet, er befand sich auf dem Kreuzfahrtschiff Aida und hatte vor der norwegischen Küste kein Netz. Als der Empfang zurück war, stieg der Pulsschlag bei Zechel: drei Anrufe in Abwesenheit vom Bundestrainer. Der Rest war dann pure Freude.
Bis zum ersten WM-Spiel gegen Polen muss der Bundestrainer seinen Kader um zwei Spieler reduzieren
So hat der Bundestrainer den Pressetermin am Mittwoch in Hamburg – eine Woche vor dem WM-Start – in sichtbarer Zufriedenheit absolviert. Hätte besser laufen können, ohne Absagen beispielsweise. Aber auch schlechter, wären die Verletzungen zahlreicher gewesen (wie beim Mitfavoriten Schweden). Oder wären Spieler ausgefallen, die für die Statik unverzichtbar sind wie Spiellenker Juri Knorr oder Rückraumschütze Renars Uscins. Geht in den beiden anstehenden Testspielen gegen Brasilien am 9. Januar in Flensburg (18.30 Uhr/ZDF-Livestream) und am 11. Januar in Hamburg (16.20 Uhr/ZDF) personell nichts mehr schief, hat der Bundestrainer für die WM eine schlagkräftige Gruppe beisammen, die einiges erreichen kann.
Kurz trauerte Gislason zwar den Absenzen von Heymann und Kohlbacher hinterher („schwer zu ersetzen“), er schwenkte aber schnell um auf die Vorteile, die es bringt, stattdessen einen Spieler wie Lukas Stutzke im Kader zu haben. Der Hannoveraner wurde wie der Kreuzfahrtreisende Zechel nachnominiert und nimmt in Gislasons Planungen eine wichtige Rolle ein: Stutzke, 26, spielt im selben Verein wie Justus Fischer, der bei dieser WM in der Abwehr im Mittelblock fest eingeplant ist. Stutzke und Fischer „verstehen sich blind“, sagte Gislason: „Wir haben da eine gute Lösung gefunden.“

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Generell attestiert der Bundestrainer seiner Mannschaft ein hervorragendes Binnenklima, was auch mit den Erfolgen des Jahres 2024 zusammenhängt. Die zähen Zeiten sind erst einmal vorbei im deutschen Handball, Gislason führte seine Mannschaft zuletzt ins EM-Halbfinale und bei den Olympischen Sommerspielen in Paris sogar ins Finale, auch wenn beide Spiele gegen den Branchenführer Dänemark verloren gingen. Da die jungen Spieler in den kommenden Jahren eher noch besser werden als schlechter, sind die Aussichten exzellent. Rechtsaußen Timo Kastening erinnerte die Atmosphäre beim Wiedersehen mit den Kollegen „an ein Klassentreffen“. Gislason pflichtete bei: „Die Stimmung und der Zusammenhalt sind außergewöhnlich.“
Bis zum ersten Auftritt gegen Polen ist es die Aufgabe des Bundestrainers, seinen Kader noch um drei Spieler zu reduzieren. Kommen keine weiteren Verletzungen dazu, wird wohl Joel Birlehm (TSV Hannover-Burgdorf) als dritter Torhüter vorerst zu Hause bleiben. Auf seiner Position setzt Gislason „ganz klar“ zunächst auf Andreas Wolff (THW Kiel) und David Späth (Rhein-Neckar Löwen). Möglich ist, dass der Bundestrainer am Montagmittag mit zwei überzähligen Nationalspielern nach Dänemark reist, mit 18 statt 16 Mann also. Und situativ vor jedem Spiel entscheidet, welche beiden Akteure er draußen lässt. Das lassen die Statuten des Handball-Weltverbands zu.
Allzu viele Gedanken über die Vorrundengegner Polen, Schweiz (17. Januar) und Tschechien (19. Januar) hat sich Gislason bislang nicht gemacht. „Wir haben uns im Training mehr um uns selbst gekümmert“, sagte er, was für das neue Selbstverständnis spricht: Die deutschen Handballer fühlen sich auf Augenhöhe mit den besten Mannschaften, vielleicht nicht mit den Dänen, aber schon mit den Schweden, Franzosen oder Spaniern. Das äußert sich auch in den Zielen für die WM. Während Gislason locker vom Halbfinale spricht, geht Rückraumspieler Luca Witzke einen Schritt weiter: „Wir wollen etwas gewinnen“, sagte er. Das wäre eine Medaille.