Deutsche Handball-Nationalmannschaft:Ein kleines Misstrauensvotum

Deutsche Handball-Nationalmannschaft: Jung, gut und gesetzt für die WM: Rückraumspieler Julian Köster (Mitte).

Jung, gut und gesetzt für die WM: Rückraumspieler Julian Köster (Mitte).

(Foto: Martin Rose/Getty Images)

Bundestrainer Alfred Gislason sagt offen, dass er vor dem WM-Start nur mit der Leistung seiner Stammbesetzung zufrieden ist. Oder will er seine Ersatzleute nur anstacheln?

Von Carsten Scheele, Hannover

Gäbe es den Award für den Trainerfuchs des Wochenendes, so ginge dieser an Alfred Gislason. Am Samstag hatte der Handball-Bundestrainer seinen Spieler Juri Knorr für dessen Fehlpässe in überraschender Deutlichkeit kritisiert, am Sonntag zeigte Knorr umgehend seine bislang beste Leistung in der deutschen Auswahl. 13 Tore erzielte er beim 33:31-Testspielsieg gegen Island, davon acht erfolgreiche Siebenmeter bei neun Versuchen. Knorr musste nach der Partie beim Autogrammeschreiben eine Extraschicht einlegen.

So eine öffentliche Schelte kann danebengehen - offensichtlich aber nicht bei Juri Knorr. Der 22-Jährige spielte noch selbstbewusster, als er es ohnehin tut. Gislason hatte das wohl geahnt, er befand, dass Knorr nach der Kritik "sehr gut zurückgekommen" sei. So spricht der Trainerfuchs.

Andere Übungsleiter hätten Knorr im nächsten Spiel vielleicht erst mal draußen gelassen. Man kann sich ja von der Bank aus angucken, wie es die Kollegen besser machen - auch das kann einen Lerneffekt ergeben. Nur ist dies für Gislason eigentlich keine Option. Er braucht Knorr zum WM-Start am Freitag gegen Katar (18 Uhr, Liveticker auf SZ.de), also spielte er auch im zweiten Island-Spiel wieder von der ersten Minute an. Und Gislason braucht nicht nur seinen Mittelmann: Er benötigt eigentlich seine komplette erste Sieben in guter Form, um bei der WM gut abzuschneiden - also mindestens das Viertelfinale zu erreichen. Wenn die beiden Testspiele gegen Island eines gezeigt haben, dann das: "Der erste Anzug sitzt. Der zweite noch nicht." Gislason wiederholte diesen Satz mehrfach.

"Uns fehlt die Breite im Kader, aber das haben wir vorher gewusst", sagt Gislason

Der erste Anzug, das sind namentlich Torwart Andreas Wolff, Kreisläufer und Kapitän Johannes Golla, Mittelmann Knorr, dazu die Halbspieler Julian Köster und Kai Häfner sowie die Außen Lukas Mertens und Patrick Groetzki. Relativ gefahrlos kann Gislason zudem den Halblinken Philipp Weber und den Halbrechten Christoph Steinert bringen, außerdem Kreisläufer Jannik Kohlbacher. Sie können das Niveau der ersten Sieben halten. Danach wird's im 18-Mann-Kader eher dünn.

Während Gislason beim ersten Test in Bremen (30:31 gegen Island) noch munter durchtauschte und so auch einen Bruch in der zweiten Halbzeit in Kauf nahm, setzte er im Rückspiel in Hannover fast ausschließlich auf die genannten Kräfte, die sich einen Vorsprung vor den Kollegen erarbeitet haben. Diese Kollegen, vom Linksaußen Rune Dahmke über Mittelmann Luca Witzke bis zum Halblinken Paul Drux oder Kreisläufer Tim Zechel, bekamen nur sehr wenige bis gar keine Einsatzminuten. Den zweiten Torhüter Joel Birlehm brachte Gislason ebenfalls nur kurz. Er fand schlecht rein in die Partie, also durfte Wolff wieder ins Tor.

"Uns fehlt die Breite im Kader", gab Gislason in aller Offenheit zu. Das habe er aber vorher schon gewusst. Es ist ein Vertrauensbeweis für seine Stammbesetzung, den der Isländer gerade erstellt. Oder, wenn man es negativ formulieren will: ein kleines Misstrauensvotum an alle anderen.

Die Spieler sagen oft, dass bei der Corona-EM 2022 ein besonderer Teamgeist entstanden sei

Wobei Gislason nicht den Fehler begehen wird, seine Ersatzleute kurz vor dem WM-Start nicht bei Laune zu halten. Bei fast jedem Handball-Turnier werden im Team irgendwann Leute wichtig, die vorher nicht mit großen Einsatzzeiten gerechnet haben, sei es aufgrund von Verletzungen der gesetzten Spieler oder positiven Corona-Tests. Oder wer hätte vor der EM 2022 in Ungarn und der Slowakei gedacht, dass einer wie der damalige Zweitligaprofi Julian Köster so viel Spielzeit bekommt? Heute zählt er zu den gesetzten Kräften. "Es ist schön, dass sich eine Formation gefunden hat", sagte Kapitän Golla, "aber auch alle anderen Spieler werden beim Turnier wichtig werden."

Bei der EM wurde das deutsche Team bekanntlich durchgerüttelt wie kein zweites: Wegen des großen Corona-Ausbruchs im Kader musste Gislason im Turnierverlauf mehr als die halbe Mannschaft ersetzen und zehn Spieler nachnominieren. Die Spieler sagen gerade häufig, dass in dieser Zeit ein besonderer Teamgeist entstanden sei, denn ganz egal, wer aus der Heimat angereist kam, er fügte sich nahtlos ein. Auch Spieler, die für die EM eigentlich abgesagt hatten, sprangen in der Not ein. Die Stimmung im Team sei auch ein Jahr später noch "überragend", stellt Gislason fest: "Es ist kein Platz für Egos. Alle geben alles für die Mannschaft."

In dieser Atmosphäre kann er es sich leisten, einzelne Spieler im letzten Test vor der WM über 60 Minuten auf der Bank sitzen zu lassen. Oder ist das nur wieder ein Kniff des so erfahrenen Isländers? Es wäre Gislason ein besonderes Vergnügen, wenn sich ein Spieler aus dem "zweiten Anzug" durch seine Worte derart angestachelt fühlt, dass er zum WM-Start gegen Katar am Freitag mal eben 13 Tore wirft.

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