Handball-EM:Eine sehr unerfahrene Truppe

Handball-EM: Überraschendes Aufgebot: Die deutschen EM-Spieler Lukas Mertens (li.), Luca Witzke (2. v. li.), Julian Köster (3. v. li.), Djibril M'Bengue (2. v. re.) und Lukas Zerbe (re.).

Überraschendes Aufgebot: Die deutschen EM-Spieler Lukas Mertens (li.), Luca Witzke (2. v. li.), Julian Köster (3. v. li.), Djibril M'Bengue (2. v. re.) und Lukas Zerbe (re.).

(Foto: Anke Waelischmiller/Sven Simon/Imago)

Bundestrainer Alfreð Gíslason gibt seinen EM-Kader bekannt - mit neun Turnier-Debütanten und nur noch wenigen bekannten Gesichtern. Kann das gutgehen?

Von Carsten Scheele

Jogi Bitter im Tor, am Kreis Hendrik Pekeler, im Rückraum Paul Drux, Juri Knorr und Fabian Wiede, auf den Außen Uwe Gensheimer oder Patrick Groetzki - das wäre eine erste Sieben, mit der man ziemlich selbstbewusst bei einer Handball-Europameisterschaft antreten könnte. Nun ist das Leben von Bundestrainer Alfreð Gíslason nicht immer ganz leicht, er hat zwar am Dienstag seinen Kader für die in Kürze bevorstehende Handball-EM in Ungarn und der Slowakei (13.-31. Januar) bekannt gegeben - von den genannten Namen ist jedoch keiner dabei.

Die Gründe sind vielfältig: Pekeler, Gensheimer und Co. pausieren in der Nationalmannschaft oder haben ihre Karrieren beim Deutschen Handballbund (DHB) für beendet erklärt. Andere sind nicht ganz fit oder führen private Absagegründe an; der junge, hoch veranlagte Mittelmann Juri Knorr ist nach überstandener Corona-Infektion nicht geimpft und deshalb kein Kandidat für die Europameisterschaft. "Das mit Juri hat uns getroffen", sagte Gíslason am Dienstag zur aktuell ärgerlichsten Personalfrage. Er hätte gern auf der Mittelposition zwischen Magdeburgs Philipp Weber und eben Knorr hin- und hergewechselt. Dieses taktische Mittel fällt nun weg. Er sei "natürlich nicht begeistert über die Absagen", bekannte Gíslason, aber was soll er machen?

Der Isländer hat, wie von ihm verlangt, trotzdem 19 Spieler berufen, die mit ihm zur EM reisen, und der Blick in den Kader beweist, dass ein schwieriges Turnier bevorstehen dürfte. Ein paar Recken sind freilich verblieben, Kapitän ist der Flensburger Johannes Golla, erfahrenster Akteur der Kieler Patrick Wiencek (150 Länderspiele), auch Torwart Andreas Wolff (Kielce, 116 Länderspiele) und Linkshänder Kai Häfner (Melsungen, 112) sind bestens bekannt im Handballland.

Danach wird es bei den arrivierten Namen schnell dünn, nur noch fünf Spieler stehen im Kader, die auch beim EM-Sieg 2016 dabei waren. In Ungarn und der Slowakei werden viele junge Akteure auf der Platte stehen, die dem breiten Fernsehpublikum in Deutschland noch nicht vorgestellt wurden - neun Debütanten sogar, die noch kein einziges großes Turnier gespielt haben. "Unter den gegebenen Umständen", sagte Gíslason, "ist das der beste Kader."

Viele Kieler oder Flensburger Spieler sucht man im aktuellen Kader vergeblich

Es war ein schwieriges Puzzle für den Bundestrainer, aber er kennt das ja bereits. Seit Februar 2020 ist er im Amt - die volle Truppe hatte er noch nie beisammen. Nicht bei der WM 2021 in Ägypten, auch nicht bei den Sommerspielen in Tokio. Es gibt immer wieder Spieler, die zwar fit sind, aus persönlichen Gründen aber auf große Turniere verzichten. Sportvorstand Axel Kromer sagte, der Verband ärgere sich schon, "dass einige Nationalspieler ihre Karriere aus unterschiedlichsten Gründen nicht so konstant im Nationalteam sehen wie das in anderen Nationen der Fall ist".

Das ging an die Adresse von Spielern wie Pekeler, der bei den Olympischen Spielen in Tokio noch wichtige Stütze des Teams war, der aktuell eine längere Pause einlegt und offenlässt, ob er noch einmal ins Nationalteam zurückkehrt. Zur Halbzeitpause einer zehrenden Saison wird der Kieler den Januar zur dringend benötigten Regeneration nutzen, während die Kollegen bei der EM weiterspielen.

Auf der Suche nach verfügbaren Nationalspielern geht Gíslasons forschender Blick deshalb in die zweite Reihe der Bundesligaprofis, sogar in die zweite Liga und ins Ausland. Die Zeiten eines starken Kieler Blocks sind vorbei, vom deutschen Rekordmeister steht mit Kreisläufer Wiencek nur ein Spieler im Kader. Die Torhüter Joel Birlehm (Leipzig) und Till Klimpke (Wetzlar), die Rückraumspieler Luca Witzke (Leipzig) und Christoph Steinert (HC Erlangen) sowie Lukas Zerbe (Lemgo) auf Außen sind immerhin Bundesligakennern ein Begriff. Aber wer ist Djibril M'Bengue? Ein Rückraumspieler vom FC Porto. Und wer ist Julian Köster? Junger Mittelmann des Zweitligisten VfL Gummersbach. Beide steigen mit der Erfahrung aus zwei Länderspielen in den Flieger.

Handball-EM: Zwei neue, frische Gesichter: Torwart Joel Birlehm (links) und Rückraumspieler Djibril M'Bengue.

Zwei neue, frische Gesichter: Torwart Joel Birlehm (links) und Rückraumspieler Djibril M'Bengue.

(Foto: Anke Waelischmiller/Sven Simon/Imago)

Ob das reicht? Schon die Vorrundengruppe mit den Weißrussen, Österreichern und Polen ist alles andere als leicht; Platz zwei muss erreicht werden, sonst droht das ganz frühe Turnier-Aus. Große Handballnationen wie Frankreich, Dänemark oder Spanien wirken aktuell weit enteilt. "Wir sind alles andere als ein Favorit bei dieser EM", sagte Gíslason und bekräftigte gar: "Wir sind nicht mal Favorit in unserer Gruppe." Das dürften die starken Polen sein, dritter deutscher Gegner im abschließenden Gruppenspiel.

Und so stellt sich die Frage, was von dieser Mannschaft bei der EM zu erwarten ist. Sie kann positiv überraschen, natürlich. "Jeder kann sich jetzt zeigen und in den Vordergrund spielen", forderte Gíslason: "Ich bin mir sicher, dass wir von der ersten Sekunde an mit großem Kämpferherz auf der Platte stehen werden." Auch Kromer erwartet ein Team mit "durchweg gnadenlos motivierten Spielern", von denen manch einer jetzt wichtige Erfahrungen sammeln kann, die später noch nützlich werden. Denn noch wichtiger als das Team, das in Ungarn und der Slowakei antritt und versuchen wird, so gut wie möglich zu bestehen, ist schließlich jenes, das 2024 bei der Heim-EM an den Start gehen wird.

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