Der Einschlag kam von links, die kräftige isländische Pranke traf ihn hart an der Schulter. Nils Lichtlein zuckte kurz und heftig zusammen, verzichtete aber auf jegliche Verteidigungstat. Neben ihm saß Bundestrainer Alfred Gislason auf dem Pressepodium in Silkeborg, und er meinte es ja gut.
Gislason hatte gerade von Lichtleins Leistung geschwärmt, vom guten Auftritt in der zweiten Halbzeit gegen Italien (34:27), der den deutschen Handballern vorzeitig einen Platz als Viertelfinal-Teilnehmer bescherte. Und um seine Worte zu bestärken, klopfte respektive haute er seinem Spieler schwungvoll in den Schulterbereich. Gislason lobte Lichtlein für dessen „sehr wendigen“ Spielstil, er habe zudem als Mittelmann seine Nebenleute „sehr gut ins Spiel gebracht“. Das fühlte sich gut an für Lichtlein, der seit WM-Beginn im Kader steht, es über den Status einer Ergänzungskraft aber nie hinausgeschafft hatte.

Handball-WM:Deutschland macht das Viertelfinale klar
Nach hypernervösem Beginn gewinnen die deutschen Handballer 34:27 gegen Außenseiter Italien – und ziehen zum Viertelfinale nach Oslo um. Dort droht ein weitaus stärkerer Gegner.
Dabei gilt der Berliner als supertalentierter Regisseur der Zukunft. Zusammen mit Spielern wie David Späth oder Renars Uscins gewann er 2023 den U21-Weltmeistertitel, bei Gislason im Nationalteam aber hatte er es stets schwerer als im Klub bei den Füchsen. Gislason sieht zwar Lichtleins große Veranlagung; er steht jedoch auf komplette Spieler, die er in Angriff und Abwehr einsetzen kann. Der im Teamvergleich eher schmächtige Lichtlein spielt meist nur im Angriff und wird für die Abwehr durch einen Teamkollegen ersetzt. Das gerät für ihn gelegentlich zum Nachteil.
Franz Semper holt sich erst ein Sonderlob ab – dann wird sein WM-Aus verkündet
Doch jetzt durfte Lichtlein ran, anstelle von Luca Witzke, und das deutsche Spiel gewann nach nervösem Beginn augenblicklich an Tempo. Der Linkshänder versteht es, das Angriffsspiel blitzschnell in die eine oder andere Richtung zu verlagern und in die Lücken zu stoßen. Er durfte sogar für ein paar Minuten in der Abwehr ran, einmal klaute Lichtlein hinten den Ball und versenkte vorn den Tempogegenstoß. „Für mich persönlich ist das schön“, sagte Lichtlein, „es ist leichter, wenn man eine unsortierte Abwehr direkt attackieren kann.“
Dass der Bundestrainer nicht nur Lichtlein, sondern Franz Semper ausdrücklich lobte, stellte sich jedoch als schlechtes Omen heraus. Semper habe eine „super zweite Halbzeit“ gespielt, sagte Gislason. In der 36. Minute wurde der Leipziger eingewechselt, 112 Sekunden später hatte er bereits sein drittes Tor erzielt. Kurz wirkte es so, als wende sich damit ein bislang ernüchterndes Turnier für Semper zum Guten: In den ersten Vorrundentagen in Herning laborierte der Rückraumspieler des SC DHfK Leipzig an muskulären Problemen; anschließend saß Semper als erster Nichtkaderspieler auf der Tribüne auf dem Sitzplatz neben Sportvorstand Ingo Meckes. Fit, aber nicht spielberechtigt.
Es bleibt für Semper, 27, jedoch bei diesem einen Auftritt: Am Freitag musste der Deutsche Handballbund (DHB) das WM-Aus des Linkshänders verkünden. Bei Untersuchungen am spielfreien Freitag stellte sich heraus, dass sich Semper im Italien-Spiel eine neue Muskelverletzung zugezogen hatte. „Dieser Ausfall ist bitter für Franz und unser Team“, sagte Nationalmannschaftsmanager Benjamin Chatton. Zusammen mit Gislason werde über eine Nachnominierung entschieden, jedoch nicht für das abschließende Hauptrundenspiel am Samstag gegen Tunesien (20.30 Uhr/ZDF), da dies tabellarisch keine Bedeutung mehr hat. Erst rechtzeitig zum Viertelfinale in Oslo, wo der nächste deutsche Gegner mit großer Wahrscheinlichkeit Portugal heißen wird, soll ein Spieler nachreisen. Als Kandidaten aus dem 35er-Kader, den Gislason vor der WM bestimmt hat, bleiben noch Max Beneke (Füchse Berlin) und David Schmidt (Frisch Auf Göppingen) übrig.
Für Semper setzt sich damit eine lange Verletztengeschichte fort. Er galt zwar im Nationalteam als natürlicher Nachfolger von Steffen Weinhold und Kai Häfner im rechten Rückraum; schwere Verletzungen haben ihn jedoch immer wieder ausgebremst, unter anderem zwei Kreuzbandrisse. Seit seinem ersten Länderspieleinsatz im Oktober 2018 hat es Semper erst auf wenig mehr als 20 Einsätze fürs Nationalteam gebracht. Mehrere große Turniere verpasste er. Irgendwas war immer.
Auch bei Juri Knorr ist fraglich, ob er im Viertelfinale spielen kann
Für Gislason ist der neuerliche Ausfall besonders bitter, da sich dank Semper gerade erst eine Lösung für das Problem im rechten Rückraum abgezeichnet hatte. So muss weiterhin Renars Uscins, 22, die gesamte Verantwortung tragen. Uscins gilt seit Olympia als erste Kraft auf seiner Position und spielte bei der WM bislang mehr oder weniger durch. Der Hannoveraner habe gegen Italien jedoch „einen sehr müden Eindruck gemacht“, erkannte Gislason und nahm Uscins für längere Zeit vom Feld. Semper konnte ihm nur eine Halbzeit lang eine Ruhepause gönnen.
Lichtlein steuert indes auf eine Doppelrolle zu: Der Berliner kann als Mittelmann agieren, als Ersatz für Juri Knorr, bei dem sich Gislason skeptisch äußerte, ob der Regisseur bis zum Viertelfinale wieder im Vollbesitz seiner Kräfte sein wird. Medienberichten zufolge soll sich Knorr sogar zur ärztlichen Untersuchung nach Flensburg begeben haben. Auch auf Halbrechts ist Lichtlein als Linkshänder eine Option, wenn Uscins eine Pause benötigt. Hier profitiert Lichtlein vom Anschauungsunterricht bei den Füchsen, wo er mit dem Dänen Mathias Gidsel zusammenspielt, dem König in dieser Disziplin. Das sind alles andere als schlechte Referenzen.