Süddeutsche Zeitung

Handball-WM: Deutschland - Norwegen:Tage der Demütigung

Die desolaten deutschen Handballer haben mit dem 25:35 gegen Norwegen den Tiefpunkt unter dem Tiefpunkt erreicht - ihrem Spiel fehlt jede Basis. Die Zukunft von Bundestrainer Heiner Brand ist ungewiss.

Christian Zaschke, Jönköping

Als die Schiedsrichter nach 60 Minuten abpfiffen, standen die deutschen Handballer verloren auf dem Feld herum wie eine Kegelgruppe, der gerade auf dem Autobahnrastplatz der Reisebus gestohlen worden ist. Sie blickten suchend um sich und sahen jubelnde Norweger allüberall, und wenn sie den Blick zum Anzeigewürfel der Arena zu Jönköping hoben, dann sahen sie eine schockierende Wahrheit: Sie, für die es um so viel ging in diesem Spiel, hatten gegen ein Durchschnittsteam aus Norwegen, für das es um nichts ging, mit zehn Toren Abstand verloren.

25:35 (13:17) stand es am Ende, es war eine Steigerung der demütigenden Niederlage gegen Ungarn vom Montag, was unvorstellbar erschien. Um einen Begriff von der Bedeutung des Geschehens für den deutschen Handball zu erhalten, muss man sich vorstellen, der formidable Physiker Lord Kelvin hätte einen Tag nach der Entdeckung des absoluten Nullpunkts herausgefunden, dass es einen noch viel absoluteren Nullpunkt gibt. Die Null unter der Null, so spielten die Deutschen Handball.

"Das war der zweite bittere Tag nacheinander", sagte Heiner Brand, "das sind Tage, die sehr weh tun." In einem derart hoffnungslosen Zustand war der deutsche Handball seit 1997 nicht mehr, als Brand den Posten des Bundestrainers übernahm. Nun stellt sich die Frage, wie lange er noch Bundestrainer bleibt. Ob er den Willen hat, mit dieser unberechenbaren Mannschaft einen neuen Anfang zu wagen. "Ich werde sicherlich mit dem Präsidium Gespräche führen", sagte er, "und zu gegebener Zeit wird die Öffentlichkeit darüber informiert, wie es mit der Nationalmannschaft weitergeht. Das werde ich nicht hier entscheiden."

Als gehe etwas zu Ende

Nach der Niederlage gegen die Ungarn hatte Brand am Dienstag gegen die Norweger auf eine Reaktion seiner Mannschaft gehofft. Er hatte sich diese Reaktion allerdings ganz anders vorgestellt, und dass sie so drastisch ausfallen würde, hätte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorstellen können. Die Partie wirkte, als gehe gerade etwas zu Ende.

Sie bedeutete eine absurd anmutende Fortsetzung der Niederlage gegen Ungarn, die ja bei genauer Betrachtung ebenfalls alle Zutaten einer Demütigung aufwies: Der beste Ungar, László Nagy vom FC Barcelona, war gar nicht dabei. Er liegt mit dem ungarischen Verband überkreuz. Der routinierte Kreisläufer Guyla Gál fehlte verletzt.

Die Ungarn sind also nicht einmal in Bestbesetzung angetreten, sie füllten die Reihen unter anderem mit Carlos Perez, einem 39 Jahre alten Mann, der schon vor der Entdeckung Amerikas Handball spielte - und doch gewannen sie gegen eine deutsche Mannschaft, die sich nach dem Sieg gegen den Olympiazweiten Island schon wieder zu Höherem berufen fühlte. Das sagt viel über die Leidenschaft, mit der die selbst in Bestbesetzung eher mittelmäßigen Ungarn zu Werke gingen, und es sagt noch mehr über die Deutschen.

Die deutsche Mannschaft hat bei dieser WM ein sehr gutes Spiel gezeigt, das sie mit einigen akzeptablen und einigen miserablen Leistungen umrahmte; gegen Norwegen spielte sie schließlich schlechter als miserabel. Das eine sehr gute Spiel war der Sieg gegen Island, bei dem das Team fast alles richtig machte und agierte wie seit Jahren nicht mehr: entschlossen, mutig und sehr, sehr schnell.

Gegen Frankreich war die Auswahl eingebrochen, gegen Ungarn und gegen Norwegen spielte sie Zitterhandball. 38 Fehlwürfe brachten die Deutschen gegen Ungarn zustande, das ist eine unfassliche Quote. Gegen Norwegen waren es immer noch beachtliche 27 Fehlwürfe, dazu brach die Abwehr auseinander, und die zuvor exzellenten Torhüter Johannes Bitter und Silvio Heinevetter fanden nie ins Spiel. "Da kommt dann eins zum anderen", sagte Brand lapidar.

Die Mannschaft gibt dem Bundestrainer Rätsel auf, er weiß nicht, ob es an der Einstellung mangelt (was er sich nicht vorstellen will), ob die Spieler nach der kraftraubenden Partie gegen Island zu müde waren (was er immerhin für möglich hält), ob sie dem Druck nicht gewachsen waren oder ob er sie als Trainer vielleicht nicht mehr erreicht. "Ich denke schon, dass man mir zuhört", sagte er, "aber wenn die Frische fehlt, dann ist wohl manches schwierig umzusetzen. Und es fehlt uns auch die spielerische Klasse, die eine absolute Spitzenmannschaft ausmacht."

Im Raum steht nun die Frage, ob die sehr guten oder die sehr schlechten Spiele der Betriebsunfall sind. Gegen Island war das Team auch deshalb so gut, weil es den Gegner aus zwei Vorbereitungsspielen sehr gut kannte und genau wusste, wo die Schwäche der Isländer liegt - da sie zwischen Abwehr und Angriff zwei Spieler wechseln, muss man schnell gegen sie spielen, und das haben die Deutschen konsequent getan.

Es fehlt die Ruhe

Komplexeren Aufgaben sind sie jedoch nicht gewachsen, sobald es ein bisschen schwierig wird, droht das Team zu zerfallen. "Wir können ja alle Handball spielen", sagte Linksaußen Dominik Klein, "aber der Kopf macht nicht mit."

Es ist jedoch nicht nur der Kopf. Eine gute Handballmannschaft hat eine Basis, auf die sie sich zurückziehen kann, wenn es nicht läuft; eine Grundordnung, einige Spielzüge, die immer gehen. Das ist wichtig, um in schwierigen Phasen wieder Sicherheit zu gewinnen. Die Deutschen haben diese Basis nicht mehr, wenn es nicht läuft, ist da keiner, der das Spiel beruhigt, der allen vermittelt: Nur die Ruhe, wir können das besser.

Die vermeintlichen Führungsspieler Pascal Hens und Michael Kraus haben sich bei diesem Turnier als überfordert erwiesen. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, beide brauchen einen starken Kapitän, bei dem sie sich anlehnen können (bei ihrem Klub in Hamburg übernimmt das der Franzose Guillaume Gille). "Wir haben nicht die Leute, die auch in Spitzenteams Verantwortung übernehmen", sagte Brand, "Mitspielen heißt ja nicht, Verantwortung zu tragen."

So ist im Team ein schwarzes Loch entstanden, in dem bisweilen alles Können dieser Mannschaft verschwindet. Dieses Problem ist so grundsätzlich, dass es für Heiner Brand bedeutet: Wenn er als Bundestrainer tatsächlich weitermachen und mittelfristig wieder Erfolg haben will, muss er neue, teils radikale Lösungen finden. Es ist im Moment vollkommen offen, ob er diesen langen Weg gehen will.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1051033
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.01.2011/jbe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.