Deutschland bei der Handball-WM:"Ich hatte das Gefühl, das Dach fliegt weg"

Kroatien - Deutschland

Da brach es aus allen heraus: Deutschlands Trainer Christian Prokop (l) jubelt zusammen mit seinen Spielern - es geht ins Halbfinale!

(Foto: dpa)
  • Die deutschen Handballer feiern gegen starke Kroaten ein emotionales Highlight der WM im eigenen Land.
  • Die Kroaten kritisieren eine Schiedsrichter-Entscheidung scharf.

Von Saskia Aleythe, Köln

Augen zu, genießen. Arme legen sich von hinten über die Schultern, Kopftätschler, Brustklopfer, Umarmungen. Lange Umarmungen, Durchschnaufen. Augen auf, Augen zu. Augen auf. Einatmen, ausatmen, die Gefühle müssen ja irgendwo hin. Jeder bekommt etwas ab von der Freude des anderen. Feuchte Augen, die haben sie alle, da unten auf dem Parkett. Patrick Wiencek greift sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, Steffen Fäth wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Hendrik Pekeler schluckt. Fabian Wiede pustet einmal die Backen auf, als er zum "Spieler des Spiels" ausgezeichnet wird. Als wäre es nicht schon emotional genug, dass er mit seinem Team gerade ins Halbfinale der Handball-WM eingezogen ist.

"Als das letzte Tor gefallen ist, hatte ich das Gefühl, das Dach fliegt weg", sagt Jannik Kohlbacher später. So konnte man die Atmosphäre in der Kölner Arena treffend beschreiben. Mehr als 19 000 Zuschauer, die nach Abpfiff noch minutenlang auf ihren Plätzen standen und unter Beifall "Viva Colonia" sangen. Jedenfalls die, die das noch konnten: Das 22:21 (11:11) gegen die Kroaten war schon wieder so ein Spiel bei dieser WM gewesen, das auch den Fans viel abverlangt hatte. Eine dramatische Partie mit einer schlimmen Verletzung; ein Vorsprung, der dahinschmolz; dazu noch Kroaten, die am Ende zürnten. Und die Deutschen? Behielten die Nerven, was Bundestrainer Christian Prokop "unheimlich stolz" machte. Gerötete Augen, schlucken. Ausatmen, schlucken.

Auch er war mit ausgestreckten Armen übers Parkett gesprungen, vier Mal in die Höhe, dann im Mannschaftskreis, Hüpfen im Uhrzeigersinn, Schulter an Schulter. "Das war heute eine Riesenprüfung für uns", sagte Prokop nach dem Spiel erleichtert, seine Mannschaft sei nicht "auseinandergebrochen", das freute ihn an diesem Halbfinal-Einzug am meisten. Schon nach neun Minuten verlor das Team mit Martin Strobel seinen Dirigenten, er wurde vom Feld getragen und das will im Handball etwas heißen. Die Diagnose kam schon in der Nacht: Kreuzband und Innenband gerissen, WM-Aus. "Wir haben den Sieg auch für ihn geholt", sagte Prokop.

Trotz 18:15-Führung wurde es noch mal knapp

"Den Schock mussten wir erst mal verarbeiten", gab Paul Drux zu, "das haben wir heute über unsere Abwehr geschafft." Einmal mehr war vor allem die offensive 3-2-1-Formation ein Ärgernis für den Gegner, hinten hielt sich Patrick Wiencek die Gegner vom Leib, weiter vorne störte Hendrik Pekeler das Spiel. Zufrieden war Wiencek trotzdem nicht ganz: "Wir haben heute Fehler in der Abwehr gemacht, die wir die letzten Spiele vielleicht nicht gemacht haben", sagte er. Die Ansprüche sind hoch mittlerweile, das Niveau aber auch. Die Gegner stark.

Problematisch war das, was sich schon durchs ganze Turnier gezogen hat: die Chancenverwertung. Mit 18:15 hatten die Deutschen nach 46 Minuten schon geführt, dann wurde es aber doch noch mal knapp. Matthias Musche, Kohlbacher und Uwe Gensheimer leisteten sich Fehlwürfe, Kroatien kam wieder heran und führte noch in der 57. Minute mit 20:19. Eine heikle Phase, erstmals musste sich Deutschland aus einem Rückstand am Ende einer Partie befreien. Und dann funktionierte sogar das, was zuletzt gründlich schiefgegangen war.

Als Prokop den siebten Feldspieler brachte, dachte man noch mal an die Vorrunden-Partie gegen Serbien zurück - da hatte es Pfiffe vom Publikum gegeben, weil die Deutschen sich drei Gegentore aufs leere Tor eingefangen hatten. Gegen Kroatien ging der Plan viel besser auf. Steffen Fäth und Fabian Wiede gelangen wichtige Treffer. "Mir war wichtig, dass sie an diese Marschroute glauben", sagte Prokop.

Immer wieder der brillante Wiede

Und dann konnte der Bundestrainer beobachten, wie Wiede in der 59. Minute einen Pass zwischen Genie und Wahnsinn spielte. Es stand 21:20, es ging also darum, auf zwei Tore Vorsprung zu erhöhen oder im dümmsten Fall den schnellen Ausgleich zu kassieren. Und was machte Wiede? Er warf den Ball von der Mitte lang übers Feld auf Linksaußen Gensheimer, der glücklicherweise verwandelte. "Immer, wenn es um was geht, ist auf den Jungen Verlass", sagte später Bob Hanning, der Vize-Präsident des Deutschen Handballbundes (DHB), über Wiede. Er kennt den 24-Jährigen schon seit er als Jugendlicher ans Internat der Füchse Berlin kam, wo Hanning auch Geschäftsführer ist. Coolness und Kreativität machen Wiede aus, er sagt: "Man glaubt immer an den Sieg, egal wie es steht."

Das galt auch für die unbändigen Kroaten, die sich noch weit nach Abpfiff der Partie über die Schiedsrichter aufregten. Dass beim Spielstand von 21:20 für Deutschland Igor Karacic ein Stürmerfoul gegen Wiede gepfiffen bekam, machte die Unterlegenen so wütend, dass Trainer Lino Červar später sogar von Betrug sprach. "Unser Team hatte heute nicht die gleichen Chancen wie Deutschland. Das ist die dritte WM, bei der wir um unsere Chance betrogen wurden", sagte er. In der Tat pfeift eine solche Szene wahrlich nicht jeder Referee gegen den Angreifer - eine durchaus harte Entscheidung also.

"Wir hatten das nötige Glück, das uns gegen Russland und Frankreich verwehrt geblieben ist", sagte Kohlbacher, und dazu gehörte auch die Unterstützung durch den Glutofen der Kölner Halle. "Eigentlich ist es unfair, weil wir ja ständig in Überzahl gespielt haben", scherzte Torwart Andreas Wolff. Das Wertvollste, was sie aus dieser Partie ziehen konnten: Dass dieses Team auch unter Druck bestehen kann, wenn es um sehr viel geht. "Ich finde, wir haben Charakter gezeigt", sagte Wiencek.

Am Mittwoch trifft die deutsche Mannschaft auf Spanien, erst am Freitag wird es dann im Halbfinale in Hamburg wieder richtig ernst, der Gegner steht noch nicht fest. Das Halbfinale war vor Turnierstart vom DHB als Ziel ausgegeben worden, das klang da noch hoch gesteckt angesichts des neunten Platzes bei der EM im vergangenen Jahr. Auch deshalb sind nun alle so überwältigt. "Für uns ist das die geilste Zeit, die wir im Berufsleben erleben dürfen", sagte Trainer Prokop, "bei diesem Job ist es manchmal sehr schwierig und manchmal richtig toll. Schön, dass wir auf der Sonnenseite stehen". Und Fabian Wiede machte sogleich klar, worum es nun geht: "Wenn man im Halbfinale ist, will man auch ins Finale und dann den Pokal hochstemmen."

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