Süddeutsche Zeitung

Handball-WM: Deutschland - Frankreich:Planlos und schockiert

Mit einer desolaten Leistung verspielen die deutschen Handballer beim 23:30 gegen Frankreich das Halbfinale und verärgern Trainer Heiner Brand. Der vermisste vor allem eines: gesunde Brutalität.

Christian Zaschke, Kristianstad

In der 38. Minute durchmaß Nikola Karabatic die deutsche Abwehr mit schnellen Schritten, es wirkte, als würden auf seinem Weg rechts und links ein paar deutsche Abwehrspieler durch die Luft gewirbelt wie Herbstlaub im Sturm.

Karabatic durchmaß den Raum - man muss sagen - würdevoll, auch wenn es zunächst ungewöhnlich klingen mag, einem Mann, der sich seinen Weg mit der Kraft einer Planierraupe bahnt, etwas Würdevolles zuzuschreiben. Schließlich war Karabatic nahe genug ans deutsche Tor herangekommen, er warf den Ball zum 17:12 ins Tor und drehte jubelnd ab, und dass während des gesamten Vormarschs sich der deutsche Handballer Holger Glandorf an seinen Rücken geklammert hatte, schien er gar nicht bemerkt zu haben.

Glandorf ist 1,95 Meter groß, er wiegt 92 Kilogramm, doch auf den Rücken von Nikola Karabatic wirkte er wie eine Stabheuschrecke auf einem Braunkohlebagger, der sich unbeirrt durchs Gelände fräst. "Diese Körperlichkeit", sagte der deutsche Bundestrainer Heiner Brand später, "ist rundum beeindruckend."

Er war gerade dabei, das 23:30 (10:13) gegen die französische Mannschaft zu verarbeiten, was ihm nicht ganz leicht fiel. "Handball ist ein körperliches Spiel", räsonierte Brand, der seinerzeit ein gefürchtet körperlicher Abwehrspieler war, der die Gegner hartnäckig wie eine Stechmücke umschwirrte, mit der Penetranz eines Staubsaugervertreters belagerte und schließlich mit der Kraft einer Schrottpresse und der Gründlichkeit einer Kehrmaschine aus der Gefahrenzone beförderte.

Auf dem Stechmücken- und den Vertreterteil würde Brand bei seinen Nachfolgern in der deutschen Abwehr gar nicht mal bestehen, aber auf den Schrottpressen- und den Kehrmaschinenaspekt mag er nicht verzichten. Sprich: Er will, dass seine Mannschaft einen anderen Handball spielt. Einen Handball ohne Angst, der auch mal weh tut, weil das nun einmal zu diesem sehr harten Sport gehört. Ob seine Mannschaft Angst vor der Härte habe? "Zumindest zeigt sie nicht das Zweikampfverhalten der Franzosen", sagte er.

Es geht dabei nicht um Brutalität, Brand ist erklärter Gegner des unfairen Spiels. Aber er ist Bewunderer des extrem körperlichen Spiels der Franzosen, gegen das derzeit keine Mannschaft der Welt anzukommen scheint. "Es geht auch um das Selbstverständnis eines Spitzenhandballers", sagte Brand, "man muss den Anderen zeigen, dass man gewillt ist, mit dem Körper zu spielen. Das ist nun mal Handball."

Die Franzosen zeigen diesen Willen auf recht unsubtile Weise: Sie tragen extra enge Trikots, unter denen sich die Muskeln als Landschaften abzeichnen, mit Gebirgsrücken, Tälern, Schluchten und Hochplateaus. Während die Franzosen wirken wie eine Spezialeinheit, die zum Schutz des amerikanischen Präsidenten beim Besuch in Osama Bin Ladens Höhlenfestung abgestellt wurde, vermitteln die deutschen Spieler im Vergleich den Eindruck einer Volleyball-Mannschaft, die sich wundert, wo bitteschön hier eigentlich das Netz ist (bis auf den tüchtigen Abwehrmann Oliver Roggisch natürlich, der die Höhlenfestung im Alleingang auseinandernähme, wenn er nicht gerade mal wieder eine Zwei-Minuten-Strafe verbüßte).

Die körperliche Überlegenheit der Franzosen ist das eine. Daran kann der Bundestrainer nichts ändern, daran können die deutschen Spieler nichts ändern. Das andere sind Wille und Einstellung. "Man kann gegen die Franzosen verlieren", sagte Brand, "die sind einfach besser als wir, die sind stärker und geschickter im Zweikampf. Aber unsere zweite Halbzeit war desolat, da sind wir auseinandergebrochen und haben uns abschießen lassen. Das geht nicht. Das kann ich nicht akzeptieren. So etwas kann und darf nicht vorkommen."

In den ersten 20 Minuten hatte die deutsche Mannschaft noch gut mitgehalten und die Partie offen gestaltet. Zur Halbzeit lag sie mit drei Toren zurück, das war nicht weiter schlimm, im Handball lassen sich solche Rückstände schnell aufholen. Doch nach weiteren zehn Minuten betrug der Rückstand bereits acht Tore, und der deutschen Auswahl war anzusehen, dass sie nicht mehr weiterwusste, dass sie frustriert war, planlos und schockiert von der eigenen Unterlegenheit.

Wie die Deutschen in dieser zweiten Halbzeit agierten, überraschte selbst die Franzosen. "Wir haben auch in der Vergangenheit hoch gegen sie geführt, aber sie haben sich immer zurückgekämpft", sagte Karabatic, "doch diesmal kam gar nichts. Es war irgendwie komisch. Holger Glandorf zum Beispiel ist für mich einer der besten rechten Rückraumspieler der Welt. Er hat überhaupt keinen Druck gemacht."

Karabatic schüttelte verständnislos den Kopf. Er sagte: "Dann haben sie ihr Selbstvertrauen verloren, und dann wird es eben sehr schwer gegen uns."

An diesem Donnerstag geht es gegen Tunesien um den Einzug in die Hauptrunde (18.15 Uhr, live im ZDF). Auch bei einer Niederlage mit nicht mehr als vier Toren Differenz kämen die Deutschen weiter. Brand will, dass die Mannschaft eine Reaktion zeigt. "Sie muss sich ohne mich zusammensetzen und reden. Sie muss sich überlegen, wie sie sich hier präsentieren will." Und sicherlich wird sie verstehen, dass Brands Schweigen die lauteste Form der Kritik ist.

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SZ vom 20.01.2011/ebc
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