Süddeutsche Zeitung

Handball-WM:Deutschland holt sich den ersten Adrenalinschub ab

  • Vor allem dank einer starken Abwehrleistung besiegt Deutschland Brasilien im zweiten Gruppenspiel der Handball-WM mit 34:21.
  • Die Mannschaft ist von sich selbst begeistert und freut sich über die Stimmung in der Halle.
  • Bundestrainer Christian Prokop, der nach der letzten Europameisterschaft um seinen Job bangen musste, wirkt wie verwandelt.

Von Saskia Aleythe, Berlin

Für Menschen, die keine Ironie erkennen, wäre Andreas Wolff ein schwieriger Gesprächspartner. Der Torwart der deutschen Handballer spricht gerne in Sätzen, die er dann doch ein bisschen anders meint. Samstagabend zum Beispiel, nach dem zweiten Vorrundenspiel der WM sagte Wolff ein bisschen im Scherz zur Leistung der deutschen Abwehr, die vor allem in der ersten Halbzeit gegen Brasilien kaum einen Ball durchgelassen hatte: "Das Ziel muss sein, dass ich mich gar nicht mehr warm machen muss". Bei Wolff ist es aber auch so: Es wäre ihm durchaus zuzutrauen, dass er das ernst meint.

Wer seinen Job so angeht wie Andreas Wolff, der hätte vermutlich ein Einzelbüro, weil er gleich morgens beim erfolgreichen Abschicken erster E-Mails aus voller Kehle einen Jubelschrei absetzt. Die Arme ausgebreitet über die gesamte Spannweite, den Mund weit aufgerissen. Beim Spielstand von 0:0 feierte Wolff so zwei gehaltene Bälle, als bekäme er eine Sonderprämie fürs Stimmungmachen. Dabei waren die 13 500 Zuschauer in der Arena am Berliner Ostbahnhof schon vorher putzmunter, die Euphorie schwappte durch die Reihen, wie es diese deutsche Mannschaft noch nicht erlebt hat. "Die Atmosphäre war vom Einlaufen her Wahnsinn, fantastisch, es hat richtig Lust gemacht auf mehr", sagte Bundestrainer Christian Prokop nach dem 34:21-Erfolg, "ich glaube, die Handball-WM kommt so langsam an in ganz Deutschland." Und Christian Prokop lächelte, wie man ihn vielleicht noch nie hat lächeln sehen, seit er Trainer der deutschen Handballer ist.

Ein Hochschaukeln der Gefühle musste es an diesem Abend gar nicht geben, "von Anfang an waren wir richtig heiß auf das Spiel", sagte Kapitän Uwe Gensheimer, "ich glaube, man hat gesehen, wie gut wir uns bewegt haben in der Deckung, was wir für Beine hatten." Handballer-Beine sind für gewöhnlich ramponiert, aber insgesamt doch sehr ähnlich zu herkömmlichen Modellen außerhalb des Profisports, zwei Stück pro Person. Doch so beweglich wie sich die Abwehr gegen Brasilien präsentierte, das war dann nicht nur sportlich eine Leistung, sondern auch ein Zeichen des Willens und der Konzentration. Noch am Vorabend hatte sich Prokop die Brasilianer bei ihrem starken Auftakt-Spiel gegen Frankreich angeschaut, "wer Brasilien gestern gesehen hat, wusste, dass wir schon alle 100 Prozent investieren müssen", sagte er, aber er sagte eben auch das über seine Mannschaft: "Das Müssen hat man heute nicht gemerkt, sondern dass sie richtig Lust darauf hatten."

Auf die Abwehr kommt es an

In den ersten 18 Minuten war Brasilien gerade mal zu drei Treffern gekommen und es zeigte sich, was das Prunkstück der deutschen Mannschaft werden könnte, auch bei diesem Turnier. Den EM-Titel 2016 hatten die Handballer hauptsächlich wegen ihrer Unüberwindbarkeit in der Defensive erobert, damals noch unter ihrem isländischen Trainer Dagur Sigurdsson. Über die Abwehrmodelle hat sich auch Prokop jede Menge Gedanken gemacht, wie gut sie funktionieren können, zeigte sich gegen Brasilien: Oft ließ der Trainer in der 6:0-Formation verteidigen, mal aber auch in einem 3-2-1-System, das Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek und Steffen Weinhold von ihrem Verein in Kiel schon kennen und in die Nationalmannschaft mitbringen durften, weil Prokop jetzt auch auf Zusammenarbeit setzt. "Es war uns als Mannschaft wichtig, dass wir ein zweites Abwehrsystem einstudieren, weil uns das glaube ich bei der EM gefehlt hat", sagte Pekeler. Bei der EM 2018, dem ersten unter Prokop, waren die Deutschen nur auf Rang neun gelandet. Beinahe hätte er da schon seinen Job verloren.

Die neue Stärke ist also Variabilität, "als Überraschung für die Gegner ist die 3-2-1 Gold wert", sagte Pekeler. Dabei verteidigen die Spieler im rechten und linken Rückraum weiter herausgerückt, der Kreisläufer noch ein paar Meter weiter vorne. Die Brasilianer kamen so in arge Bedrängnis, "für einen Mittelmann ist es dann ziemlich schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen", erklärte Finn Lemke, der für das neue System "gut angelernt" wurde. Tatsächlich häuften sich die Stürmerfouls und Abspielfehler auf brasilianischer Seite, womit die deutsche Mannschaft auch ihre Stärken in der Offensive ausspielen konnte - Tempogegenstöße über die Außenpositionen oder Kreisläufer. Auch an diesen sogenannten einfachen Toren hatte es den Deutschen vor einem Jahr bei der EM gefehlt. Bester Torschütze des Abends war Uwe Gensheimer mit zehn Toren, auf den Problempositionen im Rückraum tat sich vor allem Steffen Fäth hervor. "Was Steffen in der ersten Halbzeit gespielt hat, war für uns entscheidend, dass wir uns neben einer so tollen Abwehrarbeit absetzen konnten", sagte Trainer Prokop.

Der Bundestrainer kam dann auch aus dem Lächeln fast nicht mehr heraus, schon während des Spiels konnte man ungewohnte Szenen sehen. Wie er selber gelöst jubelte, mit Spielern abklatschte und sie umarmte. Als wäre all die Anspannung abgefallen, die sich seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren auf seinen Schultern aufgebaut hatte. Ob das sein schönstes Spiel als Bundestrainer war, wurde der 40-Jährige im Anschluss gefragt. Antwort: "Ja, das kann man so beschreiben."

Am Abend war für die Handballer noch Freizeit angesagt, Silvio Heinevetter hatte am Vortag seine Vorliebe fürs Dschungelcamp-Gucken deutlich gemacht. "Die sollen Tausend mal Dschungelcamp gucken", sagte Christian Prokop noch, "das ist ganz wichtig, dass sie nach so einem Adrenalinschub jetzt Ruhe, Erholung, Lockerheit finden."

Natürlich wissen sie im deutschen Team, dass ihnen noch schwierigere Aufgaben bevorstehen als eine brasilianische Mannschaft, am Montag müssen sie schon das nächste Spiel gegen die Russen absolvieren. Andreas Wolff sagte: "Bei der Abwehr ist einiges möglich." Ohne Ironie.

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