Süddeutsche Zeitung

Deutschland bei der Handball-WM:Lektionen aus Danzig

Die deutschen Handballer hatten die Franzosen zeitweise unter Kontrolle - und verlieren im Viertelfinale doch hoch. Beim WM-Aus zeigt sich, dass die Mannschaft unter zwei Problemen aus dem Fachbereich der Sportpsychologie leidet.

Von Carsten Scheele

Aufgegeben? Hatte Torwart Andreas Wolff tatsächlich gesagt, dass sich das deutsche Team gegen Spielende gegen die Franzosen "aufgegeben" hatte? Nein, das wollte Handball-Bundestrainer Alfred Gislason im ZDF, dem übertragenden Fernsehsender, so nicht stehen lassen. Er sei "überhaupt nicht der Meinung, dass wir uns aufgegeben haben", sagte Gislason nach dem Viertelfinal-Aus gegen Frankreich, etwas angesäuert ob der flapsigen Formulierung seines Torstehers: "Im Gegenteil. Wir haben weitergemacht. Aber wir haben schlecht geworfen."

Fast zwei Wochen lang hatte der Bundestrainer viel Freude mit seiner Mannschaft gehabt bei dieser WM, dieser Eindruck sollte bleiben nach dem Ausscheiden, das war Gislason wichtig. Aufgegeben hatte sich sein Team tatsächlich nicht, auch wenn eine Niederlage mit zwei Toren Unterschied besser geklungen hätte als jene mit sieben Treffern am Mittwochabend in Gdańsk (Danzig). Das Ergebnis fiel mit 28:35 (16:16) unerbittlicher aus, als es der Spielverlauf lange vermuten ließ. Denn das deutsche Team hatte die Franzosen zeitweise unter Kontrolle, hatte geführt und über 40 Minuten gezeigt, dass es in der Lage sein könnte, dieses Weltklasseteam zu besiegen - oder an den Rand einer Niederlage zu bringen.

Dann hatte Gislasons Mannschaft aber erkennen lassen, wo es im Vergleich zu den Rekordweltmeistern noch fehlt. Eine Mannschaft wie die Franzosen hätte nicht zweimal eine Führung so leicht weggeworfen, wie es das deutsche Team in der ersten Halbzeit (11:7) und nach der Pause (19:17) getan hatte. Und nein, eine Mannschaft wie die Franzosen hätte sich in der zweiten Halbzeit eines wichtigen WM-Viertelfinals auch keine Auszeit von schwer erklärbaren acht Minuten gegönnt, in der sie kein Tor erzielt.

Das DHB-Team kann nicht heimfliegen - es geht noch um die Platzierungen

"Schlecht geworfen", hatte Gislason gesagt. So einfach kann die Analyse ausfallen, in der Tat. Gleich mehrere Bälle aus dem deutschen Rückraum fing der französische Torwart Rémi Desbonnet einfach so weg. Patsch, mit zwei Händen. Das ist die Höchststrafe für einen Rückraumwerfer, das sieht man auf diesem Niveau selten.

Aber so bleiben die Franzosen vorerst die Franzosen, und die Deutschen eben die Deutschen, die bei großen Turnieren schon seit Jahren keine der Topnationen mehr bezwingen konnten, auch bei der WM 2023 nicht. Für Frankreich geht es im Halbfinale weiter, am Freitag in Stockholm gegen Gastgeber Schweden, der auf Spielmacher Jim Gottfridsson verzichten muss. Der Regisseur brach sich im Viertelfinale gegen Ägypten (26:22) die linke Hand und wird für Monate ausfallen.

Und wie geht der Weg für die Deutschen weiter? Es wird kompliziert, einfach heimfliegen und dem Frust freien Lauf lassen, ist jedenfalls nicht drin. Die Logik einer Handball-WM besagt, dass jeder Platz in der Endabrechnung ausgespielt werden muss. Also folgen noch zwei Spiele mit sportlich fragwürdigem Wert, das erste am Freitagnachmittag gegen Afrikameister Ägypten, das zweite am Sonntag. Am Donnerstag gab Gislason bekannt, dass er für die Spiele den Rechtsaußen Lukas Zerbe sowie Rückraumspieler Lukas Stutzke nachnominiert; Paul Drux hat dagegen die Heimreise angetreten. Es geht um die Plätze fünf bis acht; mit Rang fünf hätte man immerhin die Chance, eines von vier Olympia-Qualifikationsturnieren auszurichten. "Fünfter hört sich besser an als Sechster, Siebter oder Achter", sagte Kapitän Johannes Golla.

Neben Olympiasieger Frankreich stehen in Weltmeister Dänemark, Europameister Schweden und Spanien, seit 2016 mindestens Dritter bei internationalen Großturnieren, die Favoriten im Halbfinale. Allesamt Teams, die auf allen Positionen doppelt besetzt sind, die dadurch auf Spielverläufe reagieren können. Und die zahllose dieser entscheidenden K.o.-Spiele erlebt haben.

An diesem Punkt setzte auch Gislason an. Deutschland habe "auf Schlüsselpositionen immer noch eine unerfahrene Mannschaft", sagte der Isländer. Alle vier Halbfinalisten seien da einen Schritt weiter. Es sei "extrem wichtig, diese Erlebnisse zu haben", sagte Gislason am Donnerstag: "Ich bin ganz sicher, dass alle Spieler von ihren Fehlern lernen."

Es sind zwei Probleme aus dem Fachbereich der Sportpsychologie, die aufs Gemüt drücken

Aber insgeheim dachten sie beim Deutschen Handballbund (DHB) schon, dass sie etwas näher dran sein könnten an einem Team wie Frankreich, näher dran am Halbfinale, das in einem Jahr, bei der Heim-Europameisterschaft 2024, unbedingt erreicht werden soll. Doch bis dahin muss sich das Team gehörig weiterentwickeln. Es sind zwei Probleme aus dem Fachbereich der Sportpsychologie, die aufs Gemüt drücken - und bei denen ist es bekanntlich doppelt so schwierig, sie abzustellen.

Es ist ein immer wiederkehrendes Dilemma, das die Deutschen bei großen Turnieren ereilt: Das Team spielt sehr gut bis gut, nimmt sich aber Auszeiten, wie in der zweiten Halbzeit gegen Frankreich: Acht bis zehn Minuten ohne Tor, da ist das Spiel anschließend verloren. Gislason hatte viel darauf hingearbeitet, dass dieses Thema bei dieser WM nicht wieder aufkommt. Nun kam es doch, im Viertelfinale. "Wenn wir um die Titel mitspielen wollen, müssen wir Spiele über 60 Minuten konstant gestalten", sagte Kapitän Golla.

Zudem gibt es Teams, die bei eigener Führung mit jedem Tor sicherer werden, selbstbewusster, den Gegner kommen lassen und mit Eiseskälte auskontern. Davon waren die Deutschen weit entfernt. Zweimal führten sie mit mehreren Toren, zweimal spielten sie danach zwei Nummern schlechter, bis Frankreich wieder dran war. Auch im letzten Hauptrundenspiel, bei der Niederlage gegen Norwegen, gab es solche Tendenzen. Man müsse in diesen Situationen "cleverer und abgezockter" werden, sagte Torhüter Wolff. Diese Niederlage sei eine "Lektion". Diesmal widersprach der Bundestrainer nicht.

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