Deutschland bei der WM:Wo bei den Handballern noch Potenzial verborgen liegt

Das deutsche Team will ins WM-Halbfinale. Was läuft gut, was muss dringend besser werden? Ein Rundgang durch den Kader.

Von Saskia Aleythe, Berlin

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Die Torhüter

Germany v France: Group A - 26th IHF Men's World Championship

Quelle: Bongarts/Getty Images

Wer nach dem ersten gehaltenen Ball beim Stand von 0:0 jubelt, als hätte er schon den Pokal gewonnen, muss ein besonderer Typ sein. "Die Halle ist explodiert, er ist explodiert, das war Wahnsinn. Diese Bühne macht er zu seiner Bühne", sagte Co-Trainer Alexander Haase über Andreas Wolff nach der Partie gegen Brasilien. So nutzt er den Heim-Vorteil wohl wie kein Zweiter. Mit zwei Paraden war er gegen die Russen ins Spiel gestartet, das Publikum johlte, die Abwehrspieler wirkten noch motivierter.

Wolff hilft nicht nur sportlich mit gehaltenen Bällen seinem Team enorm weiter, sondern auch emotional. Die Energie, die er beim Toben loswird, scheint sich auf die Mannschaft zu übertragen. Mit einer Quote von 39 Prozent abgewehrter Würfe liegt er auf Rang fünf bei den besten Torhütern des Turniers. Sein Ersatzmann Silvio Heinevetter ist mit der letzten Vorrundenpartie auch im Turnier angekommen, er stand aber auch vorher schon bereit, wenn Wolff Pausen benötigte. Wer Potenzial nach oben suchen möchte, findet es bei beiden Torhütern beim Abwehren von Siebenmeterwürfen: Bei 19 Versuchen landete der Ball 17 Mal im Netz.

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Die Linksaußen

BESTPIX - Germany v France: Group A - 26th IHF Men's World Championship

Quelle: Bongarts/Getty Images

Uwe-Sprechchöre gingen durch die Halle in Berlin, der Lohn für einen starken WM-Auftakt: Dass er nicht ohne Grund beim europäischen Spitzenklub Paris Saint-Germain unter Vertrag steht, hat Uwe Gensheimer eindrücklich bewiesen: Mit 31 Treffern erzielte er in der Vorrunde mehr als doppelt so viele wie der zweitbeste deutsche Torschütze. Und so gilt, was auch Prokop resümierte: "Wir haben einen Kapitän in Topform, der emotional das Publikum mitnimmt, der vorweg geht und in der Abwehr seine Aufgabe hervorragend macht und sehr effizient spielt." Niemand trifft so verlässlich wie Gensheimer (das Spiel gegen Serbien mal ausgenommen) und auch am Siebenmeterpunkt dauerte es, bis ein Torhüter ihm die Show stehlen konnte. Um zu leichten Toren zu kommen, könnte sein Team bei Tempogegenstößen sogar noch öfter den Blick für Gensheimer richten.

Für Matthias Musche, der in der Bundesliga aktuell die Torschützen-Liste anführt, gibt es mit so einem Konkurrenten nur wenig Spielanteile. "Uwe ist einfach ein Hammer-Linksaußen. Das kann ich akzeptieren", sagt Musche selber, seine Einstellung stimmt. Und sollte Gensheimer beim Siebenmeterwerfen doch mal die Hand zittern, würde Musche schon einspringen: Gegen Serbien verwandelte er zwei von zwei Strafwürfen sicher.

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Die linken Rückraumspieler

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Germany v France

Quelle: REUTERS

Mit 113 Kilometern pro Stunde schlug der Ball von Steffen Fäth gegen Serbien ins Netz - seine Wurfgewalt ist wohl so groß wie bei keinem anderen im deutschen Team. Doch der Europameister von 2016 spielt ein durchwachsenes Turnier, nach gutem Start ist seine Trefferquote zuletzt stets gesunken. "Wenn wir was reißen wollen, muss Steffen in Topform sein", hatte Hendrik Pekeler vorab gesagt, das ist Fäth bisher noch nicht.

Fabian Böhm zeigt freche Aktionen, gegen Russland erzielte er in letzter Minute das 25:24 vor dem bitteren Ausgleich - doch gegen Frankreich unterlief ihm in der Endphase ein kapitaler Fehlpass. Immerhin: Er macht nicht den Eindruck, dass ihn das sonderlich lähmen würde. Das gilt auch für Paul Drux, der gegen die Russen am Ende den entscheidenden Pass versemmelte. Er rappelte sich auf und erfüllt eine ziemlich wichtige Funktion, auch abseits des Torewerfens: Wenn er in die Abwehrreihen eintaucht, gibt es oft Verzweiflungstaten der Gegner und für Deutschland Siebenmeter. Insgesamt ist mit diesem Rückraum alles möglich, das Potenzial bisher aber noch nicht ausgeschöpft.

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Die Mittelmänner

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Russia v Germany

Quelle: REUTERS

Martin Strobel bekam von Bob Hanning, dem Vizepräsidenten des Deutschen Handballbundes, ein Sonderlob: Großartig sei seine Leistung gegen Frankreich gewesen und überhaupt: wie der 32-Jährige seine Mitspieler in Szene setze, sei "die größte Erneuerung" im Vergleich zur EM. Da war Strobel nicht dabei gewesen, er hatte nach Olympia-Bronze 2016 seine Karriere in der Nationalmannschaft ja schon für beendet angesehen und spielt mittlerweile nur noch in der 2. Bundesliga. Was allerdings nichts über seine Qualität aussagt, die sich nun zeigte: Wie stark sich Strobel derzeit präsentiert, ist tatsächlich eine positive Überraschung. Er zieht Lücken für die Mitspieler, spielt kluge Pässe, macht wenig Fehler und ist selber für Tore gut. Zeitweise spielte Prokop auch mit Drux oder Fabian Wiede auf der Mittelposition, auch das funktionierte. Eine Frage in der Hauptrunde wird sein, ob der Rückraum die Kreisläufer weiter gut in Position bringen kann. Die Abwehrreihen werden ja eher besser als schlechter.

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Die rechten Rückraumspieler

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Quelle: AFP

Es wurde ziemlich schnell deutlich, was Patrick Groetzki meinte, als er über Fabian Wiede sagte: "Er strahlt vor Kreativität." Der Linkshänder Wiede hat neben seinen Tätigkeiten auf der Mittelposition bisher vor allem auf der rechten Seite für Szenen gesorgt, die es in die Highlight-Videos der WM schaffen könnten: Rückhandpässe an den Kreis oder auf Außen, eigene Treffer aus unmöglichen Positionen, Anspiele übers halbe Spielfeld hin zu Uwe Gensheimer. Dass dann auch mal Fehlpässe dabei sind, verzeiht ihm zumindest Bob Hanning: "Fabian darf mehr Fehler machen als andere, weil er auch mehr direkte Pässe zum Tor gibt als jeder andere."

Die Anzahl der technischen Fehler ist im deutschen Spiel noch zu hoch, das gilt für den gesamten Rückraum, doch man kann es sehen wie Franz Semper: "Da wo Fehler passieren, ist noch Potenzial nach oben." Der 21-Jährige absolviert seine erste WM, oder besser: Absolvierte. Hinter Wiede und Steffen Weinhold konnte er sich nicht ins Rampenlicht spielen, Prokop nominierte nun Kai Häfner nach. Er soll Entlastung geben, denn Weinhold ist angeschlagen und muss eine muskuläre Verletzung auskurieren. Gegen Russland setzte Weinhold mit guten Anspielen Akzente, ist aber hinter Wiede auf der rechten Seite derzeit eher zweite Wahl.

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Der Rechtsaußen

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Germany v France

Quelle: REUTERS

Natürlich schauten alle bei Patrick Groetzki nun ein bisschen genauer hin. Durch die Nicht-Nominierung von Tobias Reichmann blieb ja nur der Mann von den Rhein-Neckar Löwen als einziger Rechtsaußen übrig - es gibt einfachere Situationen für eine Heim-WM. Den Druck merkte man Groetzki deutlich an, in den ersten drei Partien verwandelte er nicht mal die Hälfte seiner Würfe, gegen Russland war er in der Abwehr ein einfach zu überwindender Gegner. Doch Groetzki steigerte sich und hatte ausgerechnet gegen den schwersten Gegner - die Franzosen - seinen besten Auftritt: Drei Würfe, drei Tore, dazu ein paar feine Anspiele an die Kollegen, die sich mit weiteren Treffern bedankten. "Da musste auch so langsam was kommen. Ich habe mir schon einen Kopf gemacht", sagte der 29-Jährige nach dem Spiel erleichtert. Auch gegen die Serben machte er eine gute Partie. Die Formkurve zeigt also nach oben. Und im Zweifel hat Prokop ja bereits andere auf Rechtsaußen getestet: Kreisläufer Jannik Kohlbacher zum Beispiel, der ohnehin findet: "Als Kreisläufer ist man auf Rechtsaußen auch nicht so schlecht aufgehoben. Ich muss ja nicht aus der Ecke werfen, da gibt es viele Spielzüge, die wir im petto haben."

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Die Kreisläufer

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Germany v Serbia

Quelle: REUTERS

Eine Position, die mit Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler und Jannik Kohlbacher so gut besetzt ist, dass keine Wünsche offenbleiben. Diese Stärke hat Prokop erkannt und das Spiel der Mannschaft extrem auf die drei ausgerichtet. "Wir laufen meistens mit zwei Kreisläufern nach vorne, dass wir ein 4-2-System haben, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass wir damit am attraktivsten sind", erklärte Pekeler vor Turnierstart und tatsächlich sind sie damit zu einigen Toren gekommen.

"Gerade beim Thema Gegenstoß haben wir noch Potenzial", sagt Bob Hanning und da werden dann auch die Kreisläufer gefragt sein, sollte das Spiel wie gewünscht schneller werden. Wiencek hat mit fünf geklauten Bällen aus der Abwehrreihe heraus auf jeden Fall schon gute Erfahrungen gesammelt, wie das gelingen könnte. Kohlbacher ist mit 14 Toren aus der Vorrunde nach Gensheimer der beste Angreifer der Deutschen, Pekeler mit seinen 2,03 Metern Körpergröße ein wichtiger Abnehmer hoher Bälle. Ein traumhaftes Trio, das allerdings den Ball auch bekommen muss: Die offensive Abwehr der Russen etwa hatte das deutsche Spiel mit den Kreisläufern gut eingedämmt.

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Die Abwehr

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Quelle: AFP

Wenn die Spieler über das "Prunkstück" der Mannschaft sprechen, dann ist mit höchster Wahrscheinlichkeit die Abwehr gemeint. Defensiv haben die Deutschen selten Probleme, darauf lag auch ein großer Fokus in der Vorbereitung. "Es war uns als Mannschaft wichtig, dass wir ein zweites Abwehrsystem einstudieren, weil uns das glaube ich bei der EM gefehlt hat", erzählte Pekeler vor der WM. Zusammen mit Wiencek spielt er ja auch beim THW Kiel die 3-2-1-Formation, mit der sie nun auch bei der WM die Gegner ärgern.

"Die 3-2-1 ist eine Abwehr, wo jeder seinen Job hat. Wenn einer den mal nicht so gut macht, ist sie relativ leicht auszuspielen", sagt Pekeler und darauf wird es dann wohl auch weiter ankommen: Dass alle im Team konzentriert verteidigen, in direkten Duellen mit den Gegenspielern hatten einzelne auch schon mal das Nachsehen in Punkto Reaktionsfähigkeit. Doch die deutsche Mannschaft wechselt die Defensivformation auch mal durch und bei einer 6:0-Abwehr kommt dann die Stärke von Finn Lemke wieder zur Geltung: 2,10 Meter sind einfach sehr schwer zu überwinden.

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Der Trainer

Deutschland - Serbien

Quelle: dpa

Eine große Wahl hatte die Mannschaft nicht. Bei der EM in Kroatien im vergangenen Jahr machten Christian Prokop und das Team einen zerrütteten Eindruck, eine große Leidenschaft füreinander schien sich zwischen dem neuen Trainer und den Spielern nicht zu entwickeln. Doch als Prokop trotz Misere nach Platz neun weitermachen durfte, fassten offenbar auch die Spieler einen Plan und der hieß: Zusammenraufen für die Heim-WM. "Es war gut, dass man sich mal gegenseitig die Meinung gesagt hat, weil ich jetzt das Gefühl habe, dass die Stimmung so gut ist wie noch nie", sagte nun Patrick Wiencek. Misstöne sind derzeit nicht zu vernehmen, die Spieler sind zusammengerückt und kommen allem Anschein nach auch mit ihrem Trainer aus. Dass mit Tobias Reichmann wieder einer daheimbleiben musste, von dem man es nicht erwartet hatte, schien die Mannschaft trotz Aufruhr zu WM-Start nicht nachhaltig zu belasten.

In den Auszeiten wirkt Prokop souveräner, statt Frontalunterricht gibt es nun tatsächlich einen Austausch. Sein Hang dazu, den siebten Feldspieler auch in heiklen Phasen einer Partie einzusetzen, ist allerdings immer wieder ein Risiko. Im vergangenen Jahre verzockte er sich mit dem taktischen Mittel beim EM-Aus gegen Spanien, gut zurecht kommt sein Team mit dem leeren Tor im Rücken immer noch nicht. Ob Prokop daraus rechtzeitig Schlüsse zieht, bleibt abzuwarten.

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Die Fans

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Germany v France

Quelle: REUTERS

Der ungeübte Fernsehzuschauer war fast schon rührend besorgt: Geht es diesen Menschen tatsächlich gut, die da mit Klatschpappen die deutsche Mannschaft anfeuern, dauerbeschallt vom Hallen-DJ? Einfache Antwort: Ja, es ging ihnen gut. Von den insgesamt 171 000 Zuschauern in Berlin soll kein einziger eine Petition gestartet haben, um aus der Handball-Party ein Kaffeekränzchen zu machen. Auch wurde niemand von Ordnern vom Sitz getackelt, wenn er seine eigenen Hände zum Applaudieren nutzte oder ganz autark stumm blieb oder grölte.

Wobei vor allem letzteres zutraf, schließlich weiß der geneigte Handballfan, was so eine Heim-WM für das austragende Land bedeutet. "Die Zuschauer sind der achte, neunte, vierzehnte Mann", zählte Torwart Andreas Wolff auf, damit müssen die Gegner erst mal klarkommen. Mit leuchtenden Gesichtern verabschiedete sich die deutsche Auswahl aus Berlin, in Köln werden mit 19 500 Zuschauern noch 6000 mehr erwartet als bisher. Prognose Patrick Wiencek: "Meine Güte, das wird ja noch geiler als in Berlin."

© SZ.de/tbr
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