Handball-WM:Der Lemke aus der letzten Reihe

Olympic Games 2016 - Handball

Finn Lemke (r.) feiert eines seiner seltenen Angriffsaktionen für die DHB-Auswahl. Seinen Tauglichkeit würde er am liebsten häufiger beweisen.

(Foto: dpa)

Finn Lemke herrscht in der Abwehr des DHB-Teams, ist ein wichtiger Faktor bei der Handball-WM. Doch der Hüne vom SC Magdeburg fühlt sich gerade nicht als vollwertiger Handballer.

Von Ulrich Hartmann

Finn Lemke muss immer hinten stehen. Es geht nicht anders. Zum Beispiel beim Mannschaftsfoto. Vorne würde er alle verdecken. Also steht er immer in der letzten Reihe. Lemke ist 2,10 Meter lang und damit einer der längsten Handballer der Welt. So einen Hünen möchte man auf dem Spielfeld ganz vorne haben, im Angriff. Wenn Lemke zum Wurf hochsteigt, ist die gegnerische Abwehr machtlos. Eigentlich. Aber Lemke ist dazu auserkoren hinten zu stehen. Auch auf dem Feld.

Lemke ist Abwehrspieler. Man lässt ihn im Angriff kaum ran. Beim Bundesligisten SC Magdeburg bekommt er bloß minimale Offensivanteile, und in der deutschen Nationalmannschaft, mit der er am Freitag gegen Ungarn das erste Spiel bei der WM in Frankreich bestreitet, darf er nur dann mal aufs Tor werfen, wenn beim Tempogegenstoß die Zeit für den Wechsel nicht reicht. Lemke würde gerne häufiger aufs Tor werfen. Deshalb wechselt er im Sommer vom SC Magdeburg zur MT Melsungen.

Der gebürtige Bremer war nicht immer der Turm in der Abwehr. Früher war er Offensivspieler und hat, nachdem er 2011 zum TBV Lemgo in die Bundesliga gewechselt war, zunehmend auch Aufgaben in der Defensive übernommen. Wenn man ihn dieser Tage im Nationaltrikot beobachtet, dann weiß man warum. Lemke steht in der Mitte der Abwehrreihe, er dreht und wendet sich zum jeweils ballführenden Gegenspieler wie ein Riese, der lauter Zwerge um sich herum in Schach halten muss. Niemand braucht zu versuchen, Lemke aus der zweiten Reihe zu überspringen. Man kann versuchen, den Ball zum Kreisläufer durchzustecken, allenfalls dort unten in Bodennähe ist Lemke zu überwinden.

"In Lemgo war ich noch primär Angriffsspieler", sagt der 24-Jährige, "aber nach meinem Wechsel nach Magdeburg vor zwei Jahren habe ich einen kompletten Turnaround zum Abwehrspieler gemacht." Gefühlte zehn Prozent darf er in Magdeburg heute im offensiven Rückraum spielen. Ansonsten läuft sein Spiel ab wie in der Nationalmannschaft: Lemke hält hinten die Zwerge in Schach, und wenn seine Mannschaft den Ball ergattert, muss er raus. Dann kommt für ihn ein Offensivspieler. Wenn der eigene Angriff abgeschlossen ist, rennt der Offensivspieler wieder raus - und Lemke in die Abwehr. Er ist, das muss man sich mal klar machen, als längster Mann in der Nationalmannschaft der Spieler mit den wenigsten Ballkontakten. Selbst die Torhüter Silvio Heinevetter und Andreas Wolff haben den Ball häufiger in der Hand als Lemke. Das kann einem Spieler ja gar nicht richtig gefallen. Dabei hat er einst als kleiner Junge mit dem Handball angefangen, weil er den Ball gern in der Hand spürt und aufs Tor wirft.

Lemke hat gute Chancen auf weitere Glücksmomente

Aber bevor jetzt der Eindruck entsteht, Lemke leide höllisch unter seinen Einsätzen im Nationalteam (45 Spiele, 21 Tore) und der Bundesliga und sei womöglich der traurigste Handballer Deutschlands - so ist das natürlich auch nicht. Er sagt: "Ich wollte immer nur eines: gewinnen; wer die Tore macht, ist mir egal." Und dass Lemke trotz kaum eigener Treffer ein Gewinnertyp ist, das hat er im Jahr 2016 hinreichend bewiesen. Erst wurde er mit der Nationalmannschaft in Polen Europameister, dann hat er mit dem SC Magdeburg den DHB-Pokal gewonnen und schließlich im August auch Bronze bei Olympia wieder mit dem Nationalteam. Das ist schwer zu toppen. Allerdings bekommt Lemke dieses Jahr gute Chancen auf weitere Glücksmomente. Von Freitag an äugt er auf eine WM-Medaille, und ab Sommer spielt er in der nordhessischen Stadt Melsungen dann einen, wie er hofft, anderen Handball. "Mein Blockspiel ist aufgrund meiner Größe und Präsenz natürlich ganz gut, aber ich hätte schon gerne mehr Angriffsanteile", sagt er. "Vorne wird mir durch meine Größe eine ganz gute Spielübersicht nachgesagt; meine Sprungkraft ist sicher nicht so überragend wie bei Tobias Reichmann, aber ich klebe auch nicht gerade am Boden."

Der Wechsel nach Melsungen erscheint notwendig, damit Lemke sein Spiel ändern und seine offensiven Qualitäten beweisen kann. Auch Bundestrainer Sigurdsson zeigt kaum Bereitschaft, den Magdeburger mal offensiv einzusetzen. "Wir bewerten die Spieler mit den Qualitäten, die sie haben", sagt Sigurdsson nüchtern zur Personalie Lemke, "wir setzen sie dann so ein, wie wir glauben, wie es am besten für die Mannschaft ist." Sigurdsson sieht in Lemke einen Abwehrspieler. Punkt. Lemke weiß das und hält sich bedeckt. "Ich habe Qualitäten im Angriff", sagt er, "aber wenn man zwei Jahre lang nicht im Angriff gespielt hat, kann man natürlich auch nicht plötzlich Ansprüche anmelden."

Dieses Jahr aber erhält er gleich zwei Optionen auf eine veränderte Rolle: in Melsungen und beim nächsten Bundestrainer. Sigurdsson geht nach der WM nach Japan, ein Nachfolger ist nicht benannt. Lemke sagt: "Ich sehne mich nach einer Rolle in Abwehr und Angriff." An dieser Veränderung will er arbeiten. Auf dem Teamfoto ist er mit seiner exklusiven Position ganz hinten weiterhin einverstanden.

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