Süddeutsche Zeitung

Handball-WM:"Alles bis jetzt war ein großer Witz"

Das Corona-Problem überlagert den Start in die Handball-WM. Tschechien und die USA bleiben zu Hause - heftige Kritik an den Hygieneregeln kommt vom Norweger Sander Sagosen.

Von Carsten Scheele

Wie das alles zeitlich noch funktionieren soll, ist jetzt die Frage, bei den Schweizer Handballern jedenfalls ist Hektik ausgebrochen. Zu Wochenbeginn dachten Nationaltrainer Michael Suter und die Spieler noch, sie würden die Weltmeisterschaft bis zum Finale am 31. Januar vom Fernseher aus verfolgen. Es ist lange her, dass sich die Schweiz für ein solches Turnier qualifizieren konnte, 26 Jahre genau. Selbst für die WM in Ägypten, die erstmals mit 32 Mannschaften ausgetragen wird, hatte es nicht für einen Startplatz gereicht.

Seit Dienstag aber ist alles anders. Zuerst sagen die Tschechen (17 Corona-Fälle im Reisetross) ihre Teilnahme kurzfristig ab, wenig später folgten die USA (19 Fälle). Die Schweiz war als zweiter Nachrücker vorgesehen, nach Nordmazedonien; also nominierte Suter in Windeseile ein Aufgebot, mit dem er bereits am Donnerstag nach Ägypten fliegen will. Die Vorbereitung: fällt aus. Das erste Spiel, passenderweise gegen den Nachbarn aus Österreich, ist ebenfalls für Donnerstag terminiert. Hektik pur? Aber hallo!

Seine Mannschaft sei "in einem Schockzustand", sagt Sagosen

Nun also reisen zwei Teams nach Ägypten, die kaum trainiert haben. Andere, die sportlich qualifiziert sind, bleiben krank zu Hause. Wiederum andere kommen bestenfalls mit dezimierter Mannschaft, denn laut aktuellem Stand gibt es auch in den Delegationen von Brasilien (hier sind unter anderem Trainer Tata Oliveira und Rückraumgröße Thiagus Petrus infiziert) und den Kapverdischen Inseln, dem deutschen Gruppengegner, diverse Corona-Fälle. Der Handball-Weltverband (IHF) um Präsident Hassan Moustafa wurde vielfach gewarnt, dass eine Mammut-WM mitten in der Pandemie keine gute Idee sein dürfte - trotzdem wurde das Risiko sehenden Auges eingegangen.

Dabei ist die Frage längst nicht mehr, ob das Turnier mit 32 Mannschaften durchgespielt werden kann, sondern ob es überhaupt 32 Mannschaften zum Vorrundenstart nach Ägypten schaffen. Das erste Spiel fand immerhin schon mal statt: Ägypten siegte am Mittwochabend 35:29 (18:11) gegen Chile, ein Pflichtsieg des WM-Gastgebers über den Außenseiter. Das Spiel wurde geleitet von den deutschen WM-Schiedsrichtern Robert Schulze und Tobias Tönnies.

Die Absagen der Tschechen und der US-Amerikaner setzen indes auch die Vertreter des Deutschen Handball-Bundes (DHB) in Alarmbereitschaft. "Das übertrifft unsere Befürchtungen", erklärte Axel Kromer, der DHB-Sportvorstand, "für die Kritiker ist das natürlich eine Bestätigung." Die deutsche Delegation war am Dienstagnachmittag in Kairo gelandet, alle Spieler wurden auf dem Rollfeld getestet, alle Befunde waren negativ. Kapitän Uwe Gensheimer und Co. warten nun im Fünf-Sterne-Hotel in Gizeh auf ihren ersten Einsatz am Freitagabend im Gruppenspiel gegen Uruguay (18 Uhr, ARD).

Im Hotel sei die Situation noch nicht ganz so, wie man es sich vorstelle, berichtete Kromer. Einige Restaurants seien verschlossen, weshalb der DHB darauf drängt, dass weitere Räume geöffnet werden, um mehr Abstand zu den übrigen Gästen einhalten zu können. Zudem seien Kromer im Hotel unweit der berühmten Pyramiden Personen aufgefallen, die "zwar akkreditiert sind, aber von denen wir nicht wissen, welche Funktion sie haben". Auch nehme es manches Mitglied des Hotelpersonals beim Tragen der Maske noch nicht so genau.

Der Schweizer Andy Schmid steht vor seiner ersten WM-Teilnahme

Sorgen bereitet auch die Situation beim zweiten Gruppengegner, dem WM-Neuling von den Kapverden, der bis zum Mittwoch mindestens sieben positive Fälle im Reisetross verzeichnete. Er warte auf eine Ansage der Welthandballverbands, wie mit dem Fall umgegangen werde, erklärte Kromer und fügte hinzu: "Wir hoffen, dass die vielen Hiobsbotschaften, die wir aus allen Ecken der Welt erhalten, endlich ein Ende nehmen."

Deutlicher wurde Sander Sagosen, der Weltklasse-Rückraumspieler des THW Kiel, der mit den Norwegern im selben Hotel wie die Deutschen wohnt. Der 25-Jährige holte nach Ankunft zur Generalkritik aus: "Alles bis jetzt war ein großer Witz", so Sagosen, er fühle sich an den "Wilden Westen" erinnert, seine Mannschaft befinde sich "in einem Schockzustand". Alle im Vorfeld gegebenen Versprechen bezüglich einer abgedichteten Handball-Hotel-Blase würden nicht eingehalten.

Kurz zurück zu den Schweizern, hier hatte sich deren bester Handballer, Andy Schmid von den Rhein-Neckar Löwen, bereits aufs Homeschooling mit seinen Kindern eingestellt. Alle Familienpläne aber seien umgeschmissen worden, er müsse "gerade waschen und packen", sagte er in der Hektik dem Mannheimer Morgen. Seine Situation sei "völlig surreal", aber doch irgendwie spannend: Schmid, 37, blickt dem Ende seiner Karriere entgegen. Die unverhoffte Chance, doch noch bei einer WM anzutreten, könne er nicht auslassen, meint der Schweizer Regisseur, der 2017 zum Handballer des Jahres in Deutschland gewählt wurde: "Ich muss das machen, ich muss diese WM spielen. Diese Chance habe ich wahrscheinlich nur dieses eine Mal in meinem Leben."

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