Süddeutsche Zeitung

Handball:Es droht ein Domino-Effekt

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Während der THW Kiel seine ersten Corona-Fälle vermeldet, sagt Kapitän Patrick Wiencek für die WM in Ägypten ab. Folgen weitere Spieler seinem Beispiel?

Von Carsten Scheele, Kiel/Hannover

"Jetzt hat es uns erwischt", sagt Viktor Szilagyi am Telefon. Es dauert ein bisschen, bis man den Geschäftsführer des THW Kiel erreicht, denn den deutschen Handball-Rekordmeister hat die Corona-Problematik zu Wochenbeginn mit voller Wucht eingeholt. Am Montag machte zunächst Patrick Wiencek, der Kieler Mannschaftskapitän, seinen WM-Verzicht publik. Wiencek, 31, wird im Januar nicht mit der deutschen Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft nach Ägypten reisen - ein aufsehenerregender Schritt, schließlich könnten andere Spieler seinem Entschluss folgen. Und am Dienstag, einen Tag später, mussten die Kieler ihre ersten beiden Corona-Fälle melden.

Zwei namentlich bislang nicht genannte Spieler wurden positiv getestet und in Quarantäne gesteckt, die übrige Mannschaft wurde vorsorglich häuslich isoliert. Das Champions-League-Spiel am Mittwochabend gegen den dänischen Klub Aalborg HB: abgesagt. Wie lange die Maßnahmen andauern, muss das Gesundheitsamt entscheiden. "Es ist genau das, was wir unter allen Umständen verhindern wollten", sagt Szilagyi.

Mehrere Monate lang konnten die Kieler Handballer ihrem Job einigermaßen routiniert nachgehen - zwar in mäßig gefüllten oder leeren Hallen, aber immerhin konnten sie spielen. Nun sind die Einschläge ganz nah, und im Klub reift die Erkenntnis, dass es vermutlich nicht funktionieren wird, die gesamte Spielzeit mit allen möglichen Wettbewerben durchzuziehen. Kiel spielt in der Bundesliga und in der Champions League, hat zudem kurz nach Weihnachten das verlegte Final-Four-Turnier der vergangenen Champions-League-Saison zu bestreiten, bevor viele Spieler zur WM entschwinden. Es sei "noch nicht so weit, dass wir priorisieren müssen, aber dieser Punkt könnte kommen", sagt Szilagyi. Deshalb hat der Klub auch verständnisvoll auf das Ansinnen des Spielers Wiencek reagiert.

Muss Bundestrainer Gislason einen ganz neuen Mittelblock bauen?

Wiencek ist nicht irgendein Nationalspieler: Er wurde 2018 vom Fachmagazin Handballwoche zum "Handballer des Jahres" gewählt, er ist der Typ "brachiale Abwehrbestie", zwei Meter groß, 110 Kilo schwer, wegen der sich Kreisläufer vornehmen, im nächsten Leben doch lieber Außenspieler zu werden, um Wiencek im Defensivzentrum zu umgehen. Wiencek, 146 Länderspiele, gibt für die WM einen Stammplatz auf, er sprach von einer "der schwersten Entscheidungen" seiner Karriere, er sei jedoch "nicht nur Nationalspieler, sondern auch Spieler des THW Kiel und vor allem Familienvater". In dieser Konstellation habe es sich nicht richtig angefühlt, sagte er, im Januar vier Wochen unterwegs zu sein, weit weg von zu Hause.

"Er hat es sich nicht leicht gemacht", sagt Szilagyi über seinen Kapitän. Die Kieler machen keinen Hehl daraus, dass sie die auf 32 Mannschaften aufgeblähte WM in Ägypten am liebsten verschieben würden; in den Sommer 2021 oder den Januar 2022, wann sich das beste Zeitfenster auftut. Er könne die Spieler zwar beraten, ihnen die Entscheidung letztlich aber nicht abnehmen. Szilagyi nennt Wienceks Entschluss "völlig verständlich".

Für Bundestrainer Alfred Gislason ist es dagegen eine weitere schwere Nachricht nach den Kreuzbandverletzungen von Franz Semper und Tim Suton. Wiencek ist seit Jahren fester Bestandteil des National-Mittelblocks; jenes Herzstücks also, wegen dem die Mannschaft am nachhaltigsten gefürchtet wird. Gislason fasste seine Reaktion in zwei Teile. Menschlich könne er Wienceks Entschluss verstehen, "ich respektiere und verstehe ihn", sagte der Isländer den Kieler Nachrichten. In seiner Funktion als Bundestrainer sei er aber traurig. Die große Frage, ob weitere Nationalspieler Wienceks Vorbild folgen, ist für Gislason von enormer Bedeutung. Der Deutsche Handballbund (DHB) hat jedem Spieler die Entscheidung freigestellt, ob er zur WM mitfährt oder nicht. "Ich hoffe, dass es bei der Absage von Patrick bleibt", sagte Gislason zwar, ein Domino-Effekt ist allerdings möglich bis wahrscheinlich. Es ist auch nicht schwer zu ahnen, welche Spieler sich aktuell Gedanken machen.

Einige kommen aus Kiel und Flensburg, aus jenen Klubs, die der WM ohnehin am kritischsten gegenüber stehen. Kiels Steffen Weinhold hat bereits kundgetan, dass er die Idee einer WM während einer Pandemie in einer kraftraubenden Saison bestenfalls mittelgut findet, ebenso Hendrik Pekeler, der aus gesundheitlichen Gründen schon einmal eine WM ausgelassen hat. Im vorläufigen WM-Aufgebot vom Montag taucht Pekelers Name noch auf; dass er wirklich teilnimmt, ist aber nicht gesichert, zumal Wiencek und Pekeler auf und neben dem Platz selten gegensätzlicher Meinung sind. Würde er ebenfalls absagen, stünde Gislason ohne sein bis in die letzte Nuance eingespieltes Mittelblockduo da. Szilagyi hat von Pekeler noch keine definitive Ansage erhalten, er sagt nur: "Peke muss mit sich im Reinen sein."

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