TV Großwallstadt:Therapie und Trost

TV Großwallstadt: Drei Ämter hat Slava Lochman, die ihn beanspruchen, aber auch Trost sind. Hier beim Zweitliga-Spiel des TV Großwallstadt beim TuS N Lübbecke.

Drei Ämter hat Slava Lochman, die ihn beanspruchen, aber auch Trost sind. Hier beim Zweitliga-Spiel des TV Großwallstadt beim TuS N Lübbecke.

(Foto: pmk/Imago)

Slava Lochman trainiert nicht nur den Handball-Zweitligisten TV Großwallstadt, sondern auch das ukrainische Nationalteam. Ein Treffen mit einem, der einen Umgang mit dem Krieg in seiner Heimat gefunden hat.

Von Sebastian Leisgang

Slava Lochman braucht sein Handy, um zu zeigen, wo die Rakete einschlug. Er öffnet die Karte und fährt mit seinen Fingern über den Bildschirm. "Hier", sagt Lochman und zeigt dann ein paar Bilder aus einer Zeit, in der die Welt noch eine andere war. In der sich die Ukraine noch nicht der Invasion Russlands erwehren musste. "Ein schöner Platz", sagt Lochman und deutet auf ein Foto: "Die Kirche. Sehr alt."

Ein Vormittag in der Aschaffenburger Innenstadt, Lochman, 45, sitzt in einem Café und trägt einen schwarzen Pullover mit der Aufschrift: "I'm Ukrainian". Eigentlich heißt er Wjatscheslaw Anatolijowytsch Lotschman, doch die Leute hier sagen Slava Lochman zu ihm. Zwischen 2004 und 2007 hat er für den TV Großwallstadt in der Bundesliga gespielt, seitdem pflegt er Kontakte an den Untermain.

Deutschland sei seine "zweite Heimat" geworden, sagt Lochman, spricht dann aber wieder über seine erste: Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, die am 25. Februar des vergangenen Jahres um vier Uhr morgens Ziel russischer Anschläge wurde. Nicht einmal zwei Kilometer entfernt von jenem Hochhaus, in dem Lochman mit seiner Frau und drei Kindern wohnte, schlug eine Rakete ein. Durch die Druckwellen wackelten bei den Lochmans die Fensterscheiben, durch die sie sonst beste Sicht über die Stadt hatten. Die Architektur, die Parkanlagen, die Museen: Kiew macht etwas her, und Lochman hat für all das eine Menge übrig. Er mag Kultur. Seit die Russen aber in der Ukraine eingefallen sind, ist das alles weit weg.

Wenn Lochman seine Geschichte erzählt, greift er immer wieder zu seinem Handy, um nach deutschen Worten zu suchen. Er will jetzt die Zwei-Wände-Regel erklären: dass man sich im Falle eines Angriffs, so die Empfehlung, in einem Raum aufhalten soll, den mindestens zwei Wände von der Außenwelt trennen. Das verspreche den besten Schutz, sagt Lochman. Die erste Wand dämpfe die Druckwelle, die zweite könne dann verhindern, dass etwas zu Bruch gehe.

Jeden Morgen studiert Lochman ukrainische Nachrichten und telefoniert mit seiner Mutter, die nach wie vor in Saporischschja lebt

Wenn Lochman über solche Themen spricht, merkt man, dass er hier, tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt, einen Umgang mit dem Krieg gefunden hat. Lochmans Sätze haben beinahe etwas Abgeklärtes. Vor ein paar Tagen habe seine Frau, erzählt Lochman, mit ihrem Bruder telefoniert und ihn gefragt, ob er das nächste Handballspiel anschaue, wenn ihr Mann wieder an der Seitenlinie stehe. "Er hat gesagt, dass gerade vier Raketen gekommen sind und der Strom weg ist", berichtet Lochman. Er bricht seinen Satz ab, dann sagt er: "So ist das jetzt bei uns."

Lochman deutet auf seinen Handybildschirm. Er hat eine App geöffnet, die Bombenalarme dokumentiert. "Um 8.45 Uhr gab es einen Alarm", sagt Lochman, "aber es war keine Attacke." Hunderte Leute in der betroffenen Region haben Herzen und Daumen geschickt. Alles gut also. So gut, wie es eben sein kann im Krieg.

Hier in Aschaffenburg sind die Gefechte zwar ziemlich weit weg, trotzdem zieht sich der Krieg durch Lochmans Alltag. Jeden Morgen studiert er ukrainische Nachrichten und telefoniert mit seiner Mutter, die nach wie vor in Saporischschja lebt. Er will sie überzeugen, nach Deutschland zu kommen, doch bislang weigert sie sich. Sie will ihre Heimat nicht mehr verlassen, obwohl sie mitbekommt, was für ein Leben ihr Sohn führt.

Lochman geht es gut. Er wollte das ja schon immer: nach Deutschland gehen, um sich im Handball einen Namen zu machen. "Hier hat man viele Möglichkeiten", sagt er, "das kann mir mein Land nicht bieten." Der Reiz der Bundesliga, das Niveau der Mannschaften, die großen Hallen, all das hat Lochman schon angezogen, als er selbst noch Rückraumspieler war. Gut ein Jahrzehnt ist mittlerweile vergangen, seit er seine Karriere beendet hat. Vor einem Jahr war es dann der Krieg, der ihn wieder nach Deutschland verschlug.

Mit seiner Frau und den drei Kindern fuhr er erst aus dem Norden Kiews in den Süden. Von dort brauchte er über vierzig Stunden für die gut 800 Kilometer lange Strecke an die Grenze zu Ungarn. Als er irgendwann in Großwallstadt ankam, stürzte er sich regelrecht in die Arbeit. Ein Jahr später trainiert der ukrainische Nationalcoach auch den Nachwuchs und die Zweitliga-Mannschaft des TVG. Drei Ämter, die ihn zwar ziemlich beanspruchen, die ihm aber auch eine Stütze sind.

Gerade das Nebensächliche ist es ja, das Lochman hilft, mit dem Wesentlichen fertigzuwerden. Der Handball ist Therapie und Trost, Ausweg und Ablenkung. Wer einen Siebenmeter wirft, denkt nicht an die Zwei-Wände-Regel, nicht einmal Lochman, der jeden Tag Nachrichten von Raketen und Bomben liest. Der Krieg trennt und zerstört, der Handball eint und baut auf, indem er Menschen zusammenbringt.

Lochman tut das gut. Als er im Laufe des Gesprächs irgendwann aber von seinen ehemaligen Mitspielern erzählt, merkt man doch, dass es ihm sehr nahegeht, was gerade in der Welt vor sich geht. "Früher", sagt Lochman, "habe ich mit ihnen gegessen und getrunken. Wir haben zusammen gefeiert - und jetzt bekomme ich von manchen nicht mal eine Antwort auf meine Nachrichten."

TV Großwallstadt: Von 2004 und 2007 hat Lochman für den TV Großwallstadt gespielt, hier gegen Guillaume Gille vom HSV Hamburg, dem heutigen französischen Nationaltrainer.

Von 2004 und 2007 hat Lochman für den TV Großwallstadt gespielt, hier gegen Guillaume Gille vom HSV Hamburg, dem heutigen französischen Nationaltrainer.

(Foto: Imago)

Der Krieg spaltet Freundschaften und Familien, auch das hat Lochman erfahren müssen. Es war eine Erkenntnis, die bis heute schmerzt, in Deutschland erfährt er aber auch die andere Seite: dass Menschen in der Not zusammenkommen und einander helfen, wo auch immer sie können. Am Untermain ist Lochman mit offenen Armen empfangen worden. Die Wärme der Leute, der Beistand und die Unterstützung haben es ihm erleichtert, sich in seinem neuen Leben einzufinden.

Mittlerweile ist Lochman längst angekommen. Er wohnt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Kleinwallstadt. Lochmans Tochter hat eine Arbeitsstelle im Ingenieurbüro von Großwallstadts Geschäftsführer Stefan Wüst angetreten, seine beiden Söhne gehen zur Schule und lernen Deutsch. Die Familie Lochman hat sich in Deutschland eingelebt. Ob sie bleibt? Da nicht absehbar sei, wann der Krieg ende, stelle sich die Frage nicht, sagt Lochman. Und wenn es so weit sei, wolle er die Entscheidung seiner Frau und den Kindern überlassen. Für sie ist es schließlich noch schwerer als für ihn. Slava Lochman hat ja den Handball.

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