Man muss Uwe Gensheimer nicht zum Propheten erklären, aber was der Handball-Nationalspieler von den Rhein-Neckar Löwen vor kurzem der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte, konnte einem jetzt schon wieder in den Sinn kommen. Auf die Frage, was den THW Kiel in der neuen Bundesliga-Saison am Gewinn der 22. Meisterschaft hindern könnte, antwortete Gensheimer nüchtern: "Verletzungen." Eine Antwort wie ein Prädikat für die Ausnahme-Mannschaft, die die Liga nun schon am dritten Spieltag mit einem Ergebnis erstaunte, das fast so unwirklich daher kommt wie Zebras, die lila-grün über die Wiese hüpfen: Kiel hat verloren, mit neun Toren Unterschied. Bitte wie, bitte was?
"HSG Wetzlar fegt Rekordmeister aus Rittal Arena", titelten die Hessen auf der vereinseigenen Homepage, und so konnte man das schon formulieren: Nach 15 Minuten lag Kiel schon 4:11 zurück, hechelte fortan dem Rückstand hinterher, am Ende stand es 22:31 (11:18). "So dürfen wir uns als THW Kiel einfach nicht präsentieren", sagte Trainer Filip Jicha; die letzte Niederlage in der Liga hatte es im vergangenen Dezember gegeben, ebenfalls in Wetzlar. Jicha hat als Spieler mit dem Klub siebenmal die Meisterschale Richtung Hallendecke gestreckt, nun vermied er, die Pleite mit den jüngsten Ausfällen zu erklären. Man konnte sie in die Kategorie "Wenn alles zusammenkommt" stecken - und wenn alles zusammenkommt, hat der Gegner einen Torhüter namens Till Klimpke, 22 Jahre jung, der 15 Paraden zeigt und 40 Prozent aller Würfe abwehrt.
Aber natürlich, der Name Sander Sagosen schwebt über allem. "Wir haben den Kopf verloren", sagte Jicha und meinte damit die konzeptlose Offensive. Im Grunde ist der Kopf ja jetzt schon Sagosen, auch weil in Nikola Bilyk ein verdienter Rückraumspieler wegen eines Kreuzbandrisses auf Dauer fehlt. Der Norweger Sagosen, der im Sommer von Paris zu den Kielern gestoßen war und etwas Glamour im Gepäck hatte, fehlte gegen Wetzlar wegen eines Muskelfaserrisses - im Angriff machte sich das deutlich bemerkbar.
Die, die spielten, waren neben der Spur; selbst Domagoj Duvnjak, zum besten Bundesliga-Handballer der abgelaufenen Saison gewählt, konnte nur drei von neun Würfen im Tor unterbringen. Erfolgreichster Torschütze der Partie war dann Wetzlars Linksaußen Maximilan Holst mit zehn Treffern. "Der THW hat immer noch eine Weltklasse-Mannschaft", sagte Holst fast entschuldigend, überhaupt sei die Abwehr der Hessen ausschlaggebend gewesen für den Erfolg. Zur Analyse gehört aber auch, dass das THW-Tor derzeit nicht über die Bestbesetzung verfügt - Weltmeister Niklas Landin fehlt nach einer Meniskus-Operation noch ein paar Wochen; Dario Quenstedt und der reaktivierte Mattias Andersson konnten bei der lückenhaften Abwehr gegen Wetzlar nicht viel retten. Für die Leistung seines Teams wählte Jicha das Wort "katastrophal" - "zuletzt war die Intensität im Training höher als in diesem Spiel".
Die Kieler hatten schon Ende September in der Champions-League-Gruppenphase ein 27:35 gegen HBC Nantes kassiert, sich aber durch Siege gegen Erlangen und Hannover in der Bundesliga wieder eingefunden. Die Katastrophenstimmung in Kiel muss nun fix durch Kampfgeist ersetzt werden, schon am Sonntag trifft man auf die SG Flensburg-Handewitt - und gegen den Nordrivalen zu verlieren, wäre doch zu viel fürs Gemüt. "Das wird keine schöne Woche für uns", kündigte Jicha an. Eine Niederlage, die so früh schon an den Nerven kratzt, spricht zumindest für eine interessante Saison.