Handball:Stimmungsmacher

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Der Innenblock steht: Finn Lemke (3. von links) hilft seinem Nebenmann Hendrik Pekeler, die deutsche Abwehr zu stabilisieren. (Foto: Getty Images)

Das deutsche Team gewinnt auch sein zweites EM-Qualifikationsspiel. Dabei fügt Bundestrainer Gislason ein altes Mannschaftsteil mit Erfolg wieder zusammen.

Von Joachim Mölter, Tallinn/München

Am Schluss schickte Alfred Gislason die ganzen Jungen aufs Parkett, damit die sich mal ein wenig austoben: die Rückraumspieler Juri Knorr, 2o, Sebastian Heymann, 22, und Franz Semper, 23, dazu den Torwart Till Klimpke, 22. Die Partie der deutschen Handballer gegen Estland war eine Viertelstunde vor Schluss so gut wie entschieden, da nutzte der neue Bundestrainer die Gelegenheit, um "die jungen Leute in Aktion zu sehen", wie er erklärte: "Wir haben keine Zeit mehr, nur im Januar noch ein paar Tage, dann geht's schon zur WM nach Ägypten." Tatsächlich war das zweite Qualifikationsspiel der deutschen Handballer für die EM 2022 in Ungarn und der Slowakei am Sonntag bereits das letzte Länderspiel in diesem Jahr. Die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) gewann in Estlands Hauptstadt Tallinn deutlich, 35:23 (13:12). Am Donnerstag hatte sie Bosnien-Herzegowina in Düsseldorf mit etwas mehr Mühe bezwungen, 25:21. In der EM-Qualifikation geht es Anfang Januar weiter mit Hin- und Rückspiel gegen Österreich, den wohl stärksten Gruppengegner. Unmittelbar danach beginnt die WM. Dafür hat Gislason nun "viele wichtige Infos" gewonnen, "mit denen ich arbeiten kann". Sein Debüt als Bundestrainer, neun Monate nach seiner Berufung, resümierte der 61 Jahre alte Isländer zwiespältig: "Die Mannschaft kam in beiden Spielen schwer rein, hat in den zweiten Halbzeiten aber sehr gut gespielt." Er kritisierte die vielen vergebenen Chancen und technische Fehler in der Offensive und lobte die konzentrierte Arbeit in der Defensive. Die lag auch daran, dass Gislason den 2,10 Meter großen Abwehrspezialisten Finn Lemke reaktiviert hatte, der gegen Bosnien nach der Pause die Verteidigung stabilisierte und gegen Estland von Anfang an auf dem Feld stand. "Finn hat der Mannschaft extrem viel Push gegeben mit seiner Art", lobte der Trainer: "Der Innenblock stand sehr gut mit Finn und Peke", Kiels Kreisläufer Hendrik Pekeler. Damit hat Gislason ein zentrales Mannschaftsteil wieder zusammengefügt, das einst sein Landsmann und Vorvorgänger Dagur Sigurdsson installiert hatte.

Im Erfolgsjahr 2016 mit dem Gewinn von EM-Titel und Olympia-Bronze hielten Pekeler und Lemke ja die deutsche Abwehr zusammen. Dabei wurde vor allem der außerhalb des Spielfelds ruhige und besonnene Lemke als "emotionaler Leader" gefeiert. "Er ist ein wichtiger Stimmungsmacher in der Mannschaft", hat spätestens jetzt auch Gislason erkannt. Gerade in leeren Hallen fällt auf, wie lautstark der Mann von der MT Melsungen seine Mannschaft antreibt und aufpeitscht: Er gibt Kommandos, klatscht in die Hände, wenn es gilt, einer gelungenen Aktion zu applaudieren.

Sigurdssons Nachfolger Christian Prokop konnte mit Lemke freilich nicht ganz so viel anfangen: Vor der EM 2018 entließ er ihn aus dem Kader, nur um ihn halbherzig zurückzuholen, als es nicht so lief beim Turnier in Kroatien. Bei der WM 2019 im eigenen Land war Lemke zwar dabei, spielte aber kaum eine Rolle. Und vor der EM in Norwegen, Österreich und Schweden Anfang 2020 schien er dann endgültig ausgemustert worden zu sein. Nun ist Christian Prokop weg und Finn Lemke wieder da. Der im Februar für den glücklosen Prokop geholte Gislason stellt dem 28-Jährigen sogar in Aussicht, nicht bloß Lückenbüßer zu sein für die vielen derzeit verletzten Nationalspieler - sondern auch ernsthafter Kandidat für die WM, sollte die wie geplant stattfinden. "Im Innenblock sind Peke und Patrick natürlich gesetzt", sagte Gislason über die Kreisläufer Pekeler und Wiencek, denen er seit seiner Zeit bei Rekordmeister THW Kiel vertraut: "Aber was Lemke da reinbringt an Qualität, hat mich sehr gefreut." In entsprechender Form werde der Melsunger "immer eine Chance haben, bei uns zu spielen", versicherte Gislason, schränkte allerdings ein: "Es wäre wichtig, wenn er sich in der Abwehr auch auf der Drei etablieren könnte." Auch im Handball werden die Positionen durchnummeriert, die im Innenblock der Abwehr sind die Drei und die Vier: Die Drei ist diejenige links vom Angreifer aus gesehen, die Vier rechts; der Mann auf der Drei hat es eher mit gegnerischen Rechtshändern zu tun, der auf der Vier folglich eher mit Linkshändern. Die Unterschiede mögen marginal erscheinen, für einen detailgenauen Fachmann wie Alfred Gislason sind sie es nicht. "Ich war erstaunt, als Finn mir erzählt hat, dass er noch nie auf der Drei gespielt hat", berichtete er und fügte hinzu, dass es ihm wichtig wäre, dass Lemke das lernt. "Ich habe bewusst mit ihm auf der Drei trainiert", erklärte der Coach, "er hat eine umso bessere Chance, wenn er auch dort spielen kann. Da muss Peke sonst immer durchspielen." Also experimentierte Alfred Gislason am Sonntag nicht nur mit den Jungen, sondern auch mit dem alten Lemke. Er probierte ihn mit Erfolg mal auf der Drei aus, an der Seite von Patrick Wiencek. Und der gelernte Rückraumspieler Lemke, der sich ansonsten bei Angriffen der DHB-Auswahl schnell auf die Bank zurückzieht, demonstrierte, dass er auch in der Offensive zu gebrauchen ist: Sein Tor zum 21:14 (41.) wurde lautstark bejubelt von den Kollegen.

© SZ vom 09.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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