Zuletzt hat Gudjon Valur Sigurdsson in Paris Bälle geworfen. Bei Saint-Germain, das ist die aktuell größte Nummer im europäischen Handball, dort stehen einige der weltbesten Spieler wie Mikkel Hansen unter Vertrag und bekommen dafür auch die höchsten Gehälter ausgezahlt. Obwohl Sigurdsson mit seinen 40 Jahren für einen Feldspieler schon sehr betagt ist, hat er für eine Spielzeit auf der Linksaußenposition mitgeholfen, den sechsten französischen Meistertitel in Serie zu sichern. Die Saison endete zwar abrupt wegen des Coronavirus, aber der Isländer ist nun auch in Frankreich Titelträger. Ein Vierteljahrhundert praktizierte Sigurdsson seinen Sport auf höchstem Niveau, nationaler Meister wurde er überall: Island, Dänemark, Deutschland, Spanien, Frankreich.
Für Schlagzeilen hat Sigurdsson (nicht zu verwechseln mit dem früheren deutschen Nationaltrainer Dagur Sigurdsson, ebenfalls ein Isländer) erst vor wenigen Tagen gesorgt, als er nach dem Titelgewinn mit PSG seine Karriere für beendet erklärt hat. Sigurdsson war eine Institution seines Sports: Er hat bei den größten Klubs des Kontinents gespielt, vor PSG unter anderem beim THW Kiel und den Rhein-Neckar Löwen sowie dem FC Barcelona, mit denen er jeweils zahlreiche Titel einheimste.
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Bei den Männern wird Kiel nach dem Abbruch der Saison zum Sieger erklärt - bei den Frauen ist Borussia Dortmund Tabellenführer, bekommt aber keinen Titel. Der Verein hält das für Diskriminierung.
Er hat auch international mit dem kleinen Island erstaunlich viel abgeräumt, etwa die Silbermedaille bei den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking. Wie gesagt: mit Island! Kein anderer Nationalspieler weltweit hat mehr Tore für sein Land geworfen, bei Sigurdsson stoppte die offizielle Zählung bei 1875 Treffern. Es gibt handballinteressierte Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass diese Sportart ohne den stets austrainierten Rechtshänder funktionieren kann, dem sein früherer Trainer Nikolai Jacobsen nachsagte: "Ich glaube, die fressen auf Island Steine."
Spannende Aufgabe für Sigurdsson in Gummersbach
Die gute Nachricht: Die Menschen müssen nicht auf "Goggi" verzichten, wie er in der Szene genannt wird. Denn Sigurdsson hat sich nach seinem Karriereende am Freitag nur eine kurze Freizeit gegönnt, ehe er am Wochenende gemeinsam mit dem VfL Gummersbach bekanntgab, dass er zur neuen Spielzeit den Zweitligisten als Cheftrainer übernehmen wird.
Damit wechselt Sigurdsson vom schwerreichen Branchenprimus Paris zu einem Klub, der mal eine richtig große Nummer war, aber längst keine mehr ist. In den Sechziger- bis Neunzigerjahren sammelte Gummersbach zwölf deutsche Meisterschaften, brachte Größen wie Heiner Brand hervor, den Weltmeister als Spieler und als Trainer; dazu Joachim Deckarm, Andreas Thiel und wie sie alle heißen. Lange her. Meister wurde Gummersbach zuletzt 1991, 2019 stieg der VfL nach Jahren des vor allem finanziellen Niedergangs erstmals ab. Die gerade abgebrochene Zweitligasaison beendete die Mannschaft auf Rang vier, drei Punkte hinter den Aufstiegsplätzen; den direkten Wiederaufstieg hat das Team damit verfehlt.
Das macht die Aufgabe für Sigurdsson umso spannender. Sie ist nicht risikoarm, für alle Beteiligten, denn Sigurdsson hat keinerlei Trainererfahrung, abgesehen davon, dass er in seiner langen Karriere wirklich viele Coaches erlebt hat, von denen er sich da und dort das Beste abgeguckt haben dürfte. Darauf setzt der Zweitligist. Sigurdsson sei "einer der erfolgreichsten und besten Handballer der letzten 20 Jahre", freute sich VfL-Geschäftsführer Christoph Schindler über den "ganz besonderen Coup". Der Isländer habe "zum einen eine unfassbare Erfahrung als Spieler und brennt zum anderen auf seine neue Aufgabe als Trainer". Die Verpflichtung sei "sehr interessant", urteilte auch Klubikone Brand gegenüber dem Sport-Informationsdienst. Brand ist aber grundsätzlich einverstanden: "Er weiß, was im Handball wichtig ist." Sigurdsson soll mit seinem großen Namen helfen, den zurechtgestutzten VfL Gummersbach wieder zu einem etwas größeren Namen zu machen.
Für Sigurdsson ist der Schritt auch eine Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte. Er hat von 2005 bis 2008 bereits in Gummersbach gespielt; es war seine zweite Station in Deutschland. "Meine Familie und ich haben uns immer sehr wohl gefühlt", sagte Sigurdsson nun. Er übernimmt das Amt von Torge Greve, der seinen Abschied bereits zuvor für den Sommer angekündigt hatte; Sigurdssons Vertrag gilt zunächst zwei Jahre, bis 2022. Dass es gut klappen kann, frühere Topspieler als Trainer einzubinden, hat zuletzt Filip Jicha beim THW Kiel gezeigt, der den Klub gleich in seinem ersten Jahr als Chefcoach zum Meistertitel geführt hat. Zuvor hat der Welthandballer von 2010 aber - im Gegensatz zu Sigurdsson - ein Jahr lang unter Vorgänger Alfred Gislason das Co-Traineramt ausgefüllt.
Auf derlei Praktikantentätigkeiten verzichtet Sigurdsson. Er hat ja eine Ahnung, wie es geht: Gut möglich, dass in Gummersbach bald Steine auf dem Speiseplan stehen.