Am Samstagabend gegen halb sieben bekam der Beobachter eine Ahnung davon, warum Alfred Gislason die Fachwelt mit der Nominierung von Marko Grgic für den Olympiakader überrascht hatte. Der Handball-Bundestrainer hatte den 20-jährigen Rückraumspieler vom ThSV Eisenach den Routiniers Kai Häfner und Philipp Weber sowie Newcomer Nils Lichtlein vorgezogen.
In besagter 42. Spielminute donnerte Grgic den Ball gegen den Innenpfosten des französischen Tors, von wo er an den Rücken von Remi Desbonnet und dann ins Tor sprang. Der vorzüglich haltende französische Torhüter zeigte angesichts der Wucht des Wurfs keine Reaktion, spätestens jetzt war klar, warum Gislason den bis dato weitgehend unbekannten Grgic mit nach Paris nimmt.
Zumal er nicht nur Werferqualitäten hat, der 1,98 Meter-Hüne zeigte auch gute Ansätze als Passgeber, seine Anspiele fanden mehrmals den Kreisläufer. Deutschland gewann gegen den Europameister mit 35:30 Toren und gab der Handballnation mit Blick auf Paris ein gutes Gefühl. Außer Grgic überzeugte Linkshänder Franz Semper im Rückraum, mit fünf Treffern neben Rechtsaußen Tim Hornke bester Schütze. Grgic traf wie Kapitän Johannes Golla und Jannik Kohlbacher viermal.
Erklärtes Olympia-Ziel ist das Halbfinale – Edelmetall erscheint nicht ausgeschlossen
Mehr als das gute Gefühl für die Zugfahrt nach Frankreich in zwei Wochen, das wohl erste große Abenteuer der deutschen Handballer, wollte der Bundestrainer dem Test nicht entnehmen: „Wir dürfen den Sieg nicht überbewerten“, sagte Gislason ins ARD-Mikrofon, den Franzosen hätten in Spielmacher Nedim Remili und Linkshänder Dika Mem die Besten gefehlt. Europameister Frankreich ist Gastgeber und Titelverteidiger, hat in den vergangenen vier Olympiaturnieren bis auf Silber in Rio 2016 (Finalniederlage gegen Dänemark) immer Gold geholt. 2016 gewann Deutschland letztmals eine Medaille: Bronze. Das erklärte Ziel für Paris ist das Halbfinale, Edelmetall erscheint nicht ausgeschlossen. Die Mannschaft hat nach einigen Rückschlägen zuletzt eine stete Entwicklung nach oben gezeigt und bei der EM im Januar mit Rang vier das beste Ergebnis unter Gislason erreicht.
Olympia ist nun die nächste Chance, das Trio der derzeit dominierende Handballnationen anzugreifen, zu dem neben Frankreich und Dänemark die Schweden zählen. Diese Aufgabe wurde Gislason bis 2027 anvertraut, die Vertragsverlängerung aber hatte der Deutsche Handballbund (DHB) von der Qualifikation für Paris abhängig gemacht – und unnötig früh und ungelenk kommuniziert. Edelmetall wäre für den Isländer, dessen Freude sich über diesen Dialog in Grenzen gehalten hatte, sicher eine Genugtuung.
Gislason benennt auch Grgics Defizite: „In der Abwehr muss er besser werden“
Gislason soll den eingeleiteten Umbruch vollziehen und zum Abschluss seines Wirkens eine neue Generation zum Weltmeistertitel im eigenen Land führen. Der Verzicht auf verdiente Kräfte und die überraschende Nominierung eines unbekannten Youngsters darf als Indiz dafür dienen. Grgic entstammt nicht etwa der DHB-Schule, war nicht U21-Weltmeister wie etwa Lichtlein, dessen Platz er jetzt besetzt. Ausschlaggebend seien Grgics Leistungen in Eisenach gewesen, erklärt der Bundestrainer: „Er hat über die ganze Saison konstant gut gespielt.“ Im Mai erst hatte Grgic im Testspiel gegen Schweden debütiert, auch nach seinem ersten Länderspiel auf deutschem Boden in Dortmund bekam er von Gislason ein gutes Zeugnis: „Er ist sehr vielseitig, hat gute Anspiele, gute Würfe und ist für sein Alter abgezockt.“ Aber Gislason wäre nicht Gislason, würde er nicht auch die Defizite klar benennen: „In der Abwehr muss er natürlich noch besser werden. Aber er lernt schnell.“
Das kann man wohl sagen. Vor drei Jahren spielte der 20-Jährige noch beim Drittligisten Saarlouis, bekam 2022 seinen ersten Profivertrag in seiner Heimatstadt Eisenach beim ortsansässigen Zweitligisten, mit dem er sofort in die erste Liga aufstieg. Dort half er in der vergangenen Spielzeit mit den vom Bundestrainer registrierten starken Auftritten maßgeblich, die Klasse zu halten. Grgic kommt aus einer Handballfamilie, seine Mutter war aktiv, sein Stiefbruder spielt noch in Saarlouis, aber das Talent hat er vom Vater: dem ehemaligen kroatischen Nationalspieler Danijel Grgic, der unter anderem von 2003 bis 2005 für den ThSV Eisenach in der ersten und zweiten Liga spielte. Momentan ist der 47-Jährige Trainer beim luxemburgischen Erstligisten Esch, trainierte zuvor auch Sohnemann Marko in der Saarlouiser Jugend.
Beim Länderspieldebüt in Schweden hatte sich Grgic im Übrigen das Zimmer mit Torhüter Andreas Wolff geteilt, dem einzig Verbliebenen Bronze-Gewinner von 2016. Der 33-Jährige bescheinigte dem Neuling eine gewisse Unbekümmertheit: „Er bringt durch seinen Vater viel mit, ist frech und schon sehr abgezockt. Wenn er noch ein bisschen anfängt, Abwehr zu spielen, kann er ein Großer werden.“
Mit dieser Unbedarftheit gab Grgic auch seine ersten Interviews, auf die Frage, wo er das Selbstbewusstsein für seine starke Leistung hernehme, meinte er lächelnd: „Ich habe es im Blut.“