Es ist nicht lange her, da herrschte eine deutlich sichtbare Nordzentrierung im deutschen Handball. Das Herz der Liga lag mittendrin in Schleswig-Holstein, zwischen Kiel und Flensburg, denn einer der beiden Nordklubs lag am Ende eigentlich immer vorn. 13 Meisterschaften in den vergangenen 20 Jahren gingen an den THW Kiel, der große Rivale von der SG Flensburg-Handewitt holte zudem drei Titel seit 2004; da blieb nicht mehr viel übrig für die Konkurrenz.
Doch die Zeiten der großen Dominanz sind vorüber, schon 2022 und 2024 ging die Schale nach Magdeburg. Und auch in dieser Spielzeit müssen sich Kieler und Flensburger damit abfinden, dass sie in der Meisterfrage keine wichtige Rolle mehr spielen werden. Der Titelkampf wird gerade in der geografischen Mitte des Landes entschieden, in Berlin oder Hannover, in Magdeburg oder Melsungen. Und dieser Umstand schmerzt die beiden früheren Branchenführer.

Handball-Bundesliga:Ein Meisterfavorit? Kaum zu prognostizieren
„Das tut der Liga sehr, sehr gut“: Sechs Klubs der Handball-Bundesliga können noch Meister werden – darunter zwei Überraschungsteams. Und an diesem Spieltag treffen die meisten direkt aufeinander.
Wie sehr, wird ersichtlich, wenn man den Äußerungen von Flensburgs Kapitän Johannes Golla lauscht. Der ist normalerweise ein Typ, der seine Worte sorgsam wählt. Nach der 29:34-Niederlage beim Tabellenneunten aus Lemgo stellte sich Golla aber ans Dyn-Mikrofon und kritisierte sein Team erheblich. Eigentlich hatte Flensburg seine letzte Chance ergreifen wollen, um noch einmal ins Titelrennen einzusteigen, doch dann dieser Aussetzer. „Eine Schande“ sei der Auftritt gewesen, sagte Golla: „Ich glaube, dass man heute alles kritisieren muss. Außer vielleicht die ersten fünf Minuten. Es ist unerklärlich, dass uns das Spiel so aus den Händen gleitet.“
„Wir haben dem Druck nicht standgehalten. Uns fehlte die Qualität“, sagt Kiels Trainer Jicha
In der Tat hatte Flensburg einen passablen Start hingelegt, zuerst 5:1, dann 9:6 geführt – ehe Lemgo die Partie mit einem 10:1-Lauf kippen ließ, was einem in allen Mannschaftsteilen herausragend besetzten Team wie Flensburg fast nie widerfährt. „Ich weiß nicht, wie wir in diese Situation gekommen sind“, sagte SG-Trainer Ales Pajovic: „Unsere Leistung war einfach nicht gut genug.“ An die Meisterschaft müssen die Flensburger bei nunmehr 15 Minuspunkten kaum noch denken: Die Füchse Berlin und die TSV Hannover-Burgdorf stehen bei neun, die MT Melsungen bei zehn, der SC Magdeburg bei elf Minuszählern. Alle Konkurrenten agieren zudem gerade stabiler und konstanter als die SG.
Zwei Autostunden weiter südlich in Kassel, wo der THW Kiel sein wichtiges Spiel beim direkten Konkurrenten Melsungen 22:27 verlor, war die Laune bei THW-Coach Filip Jicha ähnlich mies. Er sei „superenttäuscht“ von seiner Mannschaft, klagte Jicha: „Wir haben dem Druck nicht standgehalten. Uns fehlte die Qualität.“ Kiel war immerhin länger im Spiel als Flensburg, führte beim Stand von 19:18 sogar, war beim 20:20 gleichauf – ehe Melsungen in den zehn verbleibenden Spielminuten davonzog und den Kielern nur noch drei Treffer gestattete. Der THW agierte verblüffend kraft- und mutlos, dabei waren beherzte Schlussphasen, im Handball oft Crunchtime genannt, früher eine Kieler Spezialität.
Damit hat Kiel jetzt 14 Minuspunkte gesammelt, zudem noch schwere Partien gegen die Tabellenführer aus Berlin und Hannover im Restprogramm. Die Meisterschaft sei „ganz weit weg“, sagte Kapitän Domagoj Duvnjak. Hendrik Pekeler erklärte, man solle gar nicht mehr auf die Tabelle schauen, „sondern erst mal wieder Spiele gewinnen“. Zuletzt hatte Kiel bereits im Derby gegen Flensburg eine bittere Niederlage kassiert. Statt der erhofften vier Punkte aus den beiden Spielen holte Kiel: null.
Um das Minimalziel, die Qualifikation für den Europapokal, und sei es nur für die European League, noch zu schaffen, müssen sich beide erheblich steigern. Oder genauer gesagt: auf gute Nachrichten aus dem Krankenlager hoffen. Kiel konnte in Melsungen die kurzfristigen Ausfälle von Emil Madsen (Infekt) und Torwart Andreas Wolff nicht kompensieren. Wolff sei „krank“ aus dem Bus gestiegen, sagte Trainer Jicha, der Torwart stellte sich in der Schlussphase trotzdem zwischen die Pfosten. Insgesamt verloren die THW-Keeper das Duell mit Melsungens Nebojsa Simic (14 Paraden) klar. Bei Flensburg wird immer deutlicher, wie sehr das Team der Ausfall des dänischen Weltmeisters Simon Pytlick trifft. Pytlick hatte der Mannschaft mit seiner individuellen Klasse immer wieder über komplizierte Phasen hinweggeholfen; jetzt fällt er bis zum Saisonende aus. Auch Flensburg hat noch ein schweres Restprogramm, empfängt Hannover zu Hause und muss in Magdeburg ran.
Immerhin bleibt den Nordklubs die Chance, die Saison in den anderen Wettbewerben annähernd zu retten. Kiel steht im Final Four um den deutschen Pokal und hat sich für das Viertelfinale der European League qualifiziert. Dort steht auch Flensburg. Jeder Titel wäre ein Trostpflaster, wenn der wichtigste, die Meisterschaft, schon in der Mitte des Landes vergeben wird.