Süddeutsche Zeitung

THW Kiel ist Handball-Meister:Krimi bis zum letzten Wurf

Kiel? Flensburg? Nein, Kiel! Halt, Flensburg! Oder? Das Wettrennen um den Meistertitel im Handball verläuft spannend wie selten - am Ende jubelt der THW Kiel.

Von Carsten Scheele

Am Ende wechselte die deutsche Meisterschaft im Minutentakt, ach was: Manchmal waren es lediglich Sekunden. Ein Tor für Kiel - in diesem Moment wäre der THW Meister gewesen. Dann Tor für die Rhein-Neckar Löwen - nun hätte wieder der Rivale aus Flensburg vorne gelegen. So ging es weiter: Tor, Gegentor, Tor, Gegentor. Mit dem Gipfel zwei Sekunden vor Schluss. Freiwurf für die Rhein-Neckar Löwen beim Stand von 25:25. Ein Tor hätte Flensburg den Titel gebracht - doch der letzte Wurf von Andy Schmid rauschte knapp am rechten Kieler Torpfosten vorbei.

Das Parallelspiel der Flensburger war zu diesem Zeitpunkt längst beendet. 38:26 gegen HBW Balingen-Weilstetten, doch das Ergebnis interessierte niemanden: Die Spieler versammelten sich in der Hallenecke vor einem Fernsehgerät und verfolgten die letzten Sekunden des Kieler Spiels. Bangen, hoffen, zittern - dann der letzte Wurf von Schmid. Einige Flensburger zogen sich ihre Trikots über den Kopf - es hatte wieder nicht gereicht.

Die Handball-Bundesliga hat am Sonntag ein an Drama tatsächlich schwer zu überbietendes Finale zwischen den ewigen Rivalen aus dem hohen Norden erlebt - wie passend zu dieser Saison, die zuvor bereits wild hin und her gewogt war. Nach einer längeren Phase, in der Flensburg an der Spitze stand, hatte Kiel im Frühjahr bereits wie der kommende Meister ausgesehen, leistete sich Anfang Juni beim SC Magdeburg aber eine überraschende Niederlage. Flensburg rutschte unverhofft in die Pole Position - das Team von Trainer Maik Machulla hatte, trotz großer Verletzungssorgen, eine bewundernswert zuverlässige Saison gespielt. Und patzte dann selbst selbst unverhofft, vier Spieltage vor Schluss, in eigener Halle gegen die Füchse Berlin.

"Wir haben den Titel so was von verdient", sagt Kiels Trainer Filip Jicha

Plötzlich waren die Kieler wieder vorne, nun dieses wilde Finale am letzten Spieltag. Ein Punkt bei den Rhein-Neckar Löwen hätte Kiel zum Titel gereicht - es wurde tatsächlich das denkbar knappste Unentschieden. Der THW Kiel hatte in der zweiten Halbzeit schon mit drei Toren geführt, gab diese Führung aber her. Immer wieder scheiterten die Spieler am bestens aufgelegten Mannheimer Torwart Andreas Palicka, der es seinen früheren Kollegen (er spielte von 2008 bis 2015 in Kiel) so richtig schwer machte. Als die Rhein-Neckar Löwen in der Schlussminute beim Stand von 25:25 noch einen Angriff zugesprochen bekamen und Kiels Abwehrchef Hendrik Pekeler zudem eine Zwei-Minuten-Zeitstrafe erhielt, sah es schon sehr schlecht für den Rekordmeister aus.

Aber Kiel rettete den Punkt, was Trainer Filip Jicha nach dem Schlusspfiff erstmal davon abhielt, einen klaren Gedanken zu fassen. "Ich bin völlig aufgedreht", gestand Jicha am Sky-Mikrofon und befand: "Wir sind alles andere als ein Zufallsmeister. Wir haben den Titel so was von verdient." Seine Spieler waren zuvor wie wild durch die Halle gehüpft, etwas ungläubig, aber auch stolz - schließlich hatte nach dem Aus in der Champions League und im DHB-Pokal ein titelloser Kieler Sommer gedroht. Dieses Szenario war nun abgewendet.

"Das ist Wahnsinn. Dafür haben wir elf Monate lang gekämpft", jubilierte der Norweger Sander Sagosen, der mit seiner Mannschaft diesmal einen "richtigen" Meistertitel feiern konnte. Im vergangenen Jahr hatte der THW Kiel die Meisterschale nach dem Saisonabbruch schließlich bloß in einer sterilen Zeremonie überreicht bekommen - mit Masken, Handschuhen und 1,5 Metern Abstand zum Mitspieler. Die Flensburger hatten den Abbruch damals akzeptiert, es herrschte schließlich eine Hochphase der Pandemie. Doch dass der Titel einfach so dem großen Rivalen zugesprochen wurde, hatte an der Förde vielen nicht gefallen. Die Flensburger waren der Ansicht, dass sie den Zwei-Punkte-Rückstand an den verbleibenden sieben Spieltagen durchaus hätten aufholen können - zu gerne hätten sie den Kielern den im Vorjahr am grünen Tisch vergebenen Meistertitel wieder abgenommen.

In diesem Jahr müssen sich die Flensburger den verpassten Titel selbst ankreiden. Das Berlin-Spiel war der eine Patzer zu viel, den sich die Mannschaft nicht hätte leisten dürfen. "Wir stehen nach einer tollen Saison mit leeren Händen da", sagte Spielmacher Jim Gottfridsson, "das tut weh." Sein Mitspieler Lasse Svan nahm sich in der Flensburger Halle das Mikro und wollte zu den Fans sprechen, seine Stimme kippte aber immer wieder weg. "Ihr könnt stolz sein auf die Jungs", brachte er noch heraus, ehe ihn der Applaus von den Rängen überrollte.

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