Es wirkte, als hätten sie in Trondheim eilig den Raum abgedunkelt, die spärlich vorhandenen Scheinwerfer angeknipst und schnell ein paar Tische zusammengestellt. Die weißen Tischdecken waren weder ordentlich gebügelt, noch lagen sie an den Enden bündig übereinander. Oben drauf standen gestapelt ein paar Pappbecher, daneben Plastikfläschchen mit Wasser. Der norwegische Klub Kolstad will die neue, ganz große Nummer im europäischen Handball werden - dieser Auftritt wirkte da noch reichlich puristisch.
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Bundestrainer Alfred Gislason verzichtet in der EM-Vorbereitung auf Arrivierte wie Andreas Wolff, Julius Kühn oder Kai Häfner. Stattdessen nominiert er zwei Spieler aus der zweiten Liga.
Entscheidend war freilich, wer auf den Stühlen hinter den knittrigen Tischdecken Platz nahm - und da hat Kolstad, das aktuell im Mittelmaß der ersten norwegischen Liga mitspielt, sechs dicke, fette Statements gesetzt. Am Sonntag traten durch eine Seitentür zunächst Sander Sagosen, Torbjörn Bergerud und Magnus Röd heraus - drei Norweger, die künftig das Kolstad-Trikot tragen werden. Torwart Bergerud kommt 2022 aus Gudme in Dänemark, die Rückraumspieler Sagosen vom THW Kiel und Röd von der SG Flensburg-Handewitt stoßen 2023 dazu. Sagosen kann der absoluten Weltklasse zugeordnet werden, Bergerud und Röd mindestens der Spitzenklasse.
Sie künftig alle in Kolstad, wirklich?
Und damit nicht genug, denn der Klub konnte für 2022 ebenfalls die Verpflichtung von Magnus Gullerud (SC Magdeburg), Janus Smarason (Frisch Auf Göppingen) sowie Sigvaldi Gudjonsson vom KC Kielce aus Polen bestätigen. Vier Norweger, zwei Isländer, das macht, wenn man so will, fast eine erste Sieben, die es mit den besten Klubs der Champions League aufnehmen könnte.
Man werde "Norwegens härtestes Sporterlebnis schaffen", kündigt der Generaldirektor an
Wie ist das möglich? Die Antwort lautet: mit viel Geld. Und einer Menge Pathos. Kolstad aus dem Süden der Stadt Trondheim war zwar noch nie norwegischer Meister, hat sich aber genau dies als erstes Ziel gesetzt. Ein Spitzenklub für Norwegen, so lautet die Prämisse. Geld für dieses Riesenprojekt ist ausreichend vorhanden, seit der Lebensmittelkonzern Rema 1000 als Hauptsponsor fungiert.
Zumindest Sagosen und Röd hätten bei ihren aktuellen Klubs weiter beständig in der Champions League mitspielen können, gehen mit Kolstad aber bewusst einen Schritt zurück, um etwas Neues aufzubauen. Man werde gemeinsam "Norwegens härtestes Sporterlebnis schaffen", kündigte Generaldirektor Jostein Sivertsen an. "Eine einmalige Gelegenheit", schwärmte Torwart Bergerud.
Norwegische Klubs waren bislang eher für die Ausbildung großer Talente gut, ehe diese zu den prominenteren Adressen wechselten. Damit soll nun Schluss sein. Der Verein holt in einem ersten Schritt einige der besten Nationalspieler nach Hause, was im Falle von Sagosen sogar eine Heimkehr erster Güte darstellt: Nach neun Jahren in Aalborg, Paris und Kiel kehrt er 2023 zu dem Verein zurück, für den er von 2012 bis 2013 bereits eine Saison gespielt hat, und bei dem obendrein noch sein Vater Erlend Mitglied des Trainerstabs ist. "Für mich war das ein Traum, seit ich Trondheim verlassen habe", sagte Sagosen. Er habe sich nicht gegen Kiel, sondern für seine Familie entschieden. Er müsse das einfach probieren.
Die deutsche Handball-Bundesliga (HBL) trifft diese Einkaufstour hart, verliert sie doch auf einen Schlag einige ihrer größten Attraktionen. Sagosen, Röd, Gullerud und Smarason spielen in ihren Klubs herausragende Rollen; die Funktionäre aus Kiel und Flensburg betonten unisono, sie hätten den Spielern die jeweils bestmöglichen Angebote unterbreitet, die Verträge lagen teilweise unterschriftsreif vor.
Gegen den Faktor Heimat konnten die Klubs aber nichts ausrichten. Insbesondere in Kiel dürfte der Schock tief sitzen, der THW wollte um Sagosen sein Team der Zukunft aufbauen. Doch der Norweger sagte nach wochenlanger Überlegungsphase ab. Als sein Wechsel publik wurde, verlor der THW postwendend blamabel beim Aufsteiger TuS N-Lübbecke. "Unentschuldbar" war noch eines der freundlicheren Worte, das in der anschließenden Analyse fiel.
Das Programm der deutschen Erstligisten ist berüchtigt
In Trondheim dagegen ist die Euphorie groß und greifbar. Gut möglich, dass sich angesichts der bislang getätigten Personalien weitere Spitzenkräfte dem Projekt anschließend. Der Flensburger Röd merkte zudem einen weiteren interessanten Aspekt an. Er muss demnächst bei Kolstad deutlich weniger Spiele absolvieren; das Programm der deutschen Erstligisten ist berüchtigt, nirgendwo sonst in Europa wird den Handballerkörpern so viel abverlangt, müssen die Spieler im Dreitagesrhythmus im Bus durchs ganze Land und halb Europa reisen. Also lieber eine Spur entspannter in Norwegen. "Das kann dazu führen, dass ich eine längere Karriere auf höchstem Niveau habe", sagte Röd.
So kann die Massenflucht der Norweger auch als kleine Warnung interpretiert werden: an die deutschen Verbände, die sich ja beharrlich weigern, den Spielplan erträglicher zu gestalten.