Süddeutsche Zeitung

Handball-Bundesliga:Am Ende der Kräfte

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Der THW Kiel stellt seinen Torwarttrainer ins Tor und verliert das Spitzenspiel gegen Flensburg. Die Corona-Spielzeit fordert ihren Tribut.

Von Carsten Scheele, Flensburg/München

Plötzlich flog Mattias Andersson wieder durch den Sechsmeterraum. Der Schwede ist normalerweise Torwarttrainer des THW Kiel, er wird an diesem Montag 43 Jahre alt, seine aktive Karriere hatte er ursprünglich 2018 beendet, nach mehr als 500 Bundesligapartien. Doch die ungewöhnliche Corona-Saison der Handballer erfordert ungewöhnliche Maßnahmen, also stand Andersson wieder zwischen den Pfosten - nicht nur für einen Siebenmeter, so etwas mag ja vorkommen, wenn ein Torwarttrainer eingewechselt wird, sondern für 40 Minuten im Spitzenspiel zwischen der SG Flensburg-Handewitt und dem THW Kiel. "Das war nicht der Plan", sagte Senior Andersson. Er sei froh, "dass ich im Tor überlebt habe".

Anderson kam rein und parierte, wie in besten Zeiten ließ er seine Pranken in die Höhe schnellen, legte sich bei Paraden im Flug quer in die Luft. Die Kieler haben tatsächlich alles aufgeboten, nicht nur Andersson oder den stark aufspielenden Norweger Sander Sagosen; auch Hendrik Pekeler hatte durchgehalten und sich durch die Partie geschleppt, obwohl der vermutlich weltbeste Abwehrspieler in der ersten Halbzeit umgeknickt war. Doch das Spitzenspiel Zweiter gegen Erster ging verloren, 28:31 (15:17) in der "Hölle Nord", wie die Flensburger Halle auch dann genannt wird, wenn keine Zuschauer zugelassen sind.

Noch ist die Meisterschaft nicht verloren, aber es war einer der größeren Rückschläge in dieser Corona-Spielzeit für die Kieler, die nun die Tabellenführung an den Rivalen abgeben mussten. "Ein gebrauchter Tag", urteilte Kiels Coach Filip Jicha.

Drei dänische Weltmeister fehlen, weil sie sich in Quarantäne befinden

Ganz überraschend kam das nicht, schon gar nicht für Jicha, der zuvor argumentativ vorgebaut hatte. Die Terminhatz von Wettbewerb zu Wettbewerb, die ständigen Verschiebungen und Nachholspiele, die positiven Corona-Tests, die alle Planungen über den Haufen werfen. "Hintenraus werden diese Wochen manche Profikarrieren sicherlich etwas abkürzen. Davon bin ich überzeugt", hatte Jicha im Norddeutschen Rundfunk gesagt und damit den Unmut der Bosse der Handball-Bundesliga (HBL) auf sich gezogen. Jichas Äußerungen seien "unreflektiert und unfair", beklagte HBL-Präsident Uwe Schwenker. Die Liga versuche schließlich alles, um den Spielbetrieb am Laufen und - so die andere Sicht der Dinge - damit auch die Klubs am Leben zu halten.

Aber bitte nicht auf Kosten der Gesundheit der Spieler, das ist Jichas Mantra, und es ist eine zulässige Betrachtungsweise, dass dieses Derby in anderen Zeiten zu Kieler Gunsten hätte ausgehen können. Die Akteure des THW sind die absoluten Vielspieler der Saison, in der die Bundesliga, zwei Champions-League-Spielzeiten, normale Länderspiele sowie eine WM und Olympia im Kalender stehen. Die Profis müssen alle zwei bis drei Tage auf die Platte, gegen Flensburg wirkten die Kräfte irgendwann endlich.

Nach dem spielintensiven Februar war die Begegnung bereits die siebte Kieler Partie des Monats März. Jicha musste auf Welttorhüter Niklas Landin verzichten, der sich nach einem Corona-Fall im dänischen Nationalteam in Quarantäne befindet - ein Verlust, den auch der gut haltende Andersson nicht kompensieren konnte. Auf Flensburger Seite fehlten die Weltmeister Mads Mensah Larsen und Simon Hald, auch sie waren mit den Dänen unterwegs gewesen.

Dezimiert war die SG also auch, die Vorzeichen waren dennoch ganz unterschiedlich: Pandemie-bedingt trat die Mannschaft zum ersten Mal seit drei Wochen zu einem Pflichtspiel an, zuvor hatte es etliche Spielabsagen gegeben. Er habe "riesigen Respekt davor, wie die Jungs sich heute in das Spiel geschmissen haben", sagte Trainer Machulla, ließ aber auch das Kieler Schwerstprogramm nicht unerwähnt: "Hätten wir jeden dritten Tag und mit einem verkleinerten Kader spielen müssen, wäre es heute noch schwieriger gewesen."

Je länger das Spiel dauerte, desto mehr machten sich die frischeren Beine bemerkbar. Flensburg lag ab Mitte der ersten Halbzeit ständig in Führung, gar nicht zu halten war der Schwede Hampus Wanne, der den Kielern ein ums andere Mal entwischte und zehn Tore erzielte; da konnte nicht mal Kiels Sagosen mit seinen neun Treffern mithalten. "Wir haben das gesamte Spiel über nicht richtig stattgefunden", sagte Jicha und lobte den Gegner: "Die Flensburger haben das schlau gemacht."

Flensburg (34:4) führt die Tabelle nun mit einem Minuspunkt weniger vor den Kielern (33:5) an, von einer Vorentscheidung in der Meisterschaft wollte Machulla bei 19 ausstehenden Spielen aber nichts wissen. Die Bundesliga sei "ein brutales Geschäft. Es ist gerade Halbzeit in der Liga - es kommt noch eine ganze Menge auf uns zu", sagte der Trainer. Halbzeit Ende März, das sagt schon einiges über diese seltsame Spielzeit aus.

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