Süddeutsche Zeitung

Handball:Keine Lust auf Wichtigtuer

Am Sonntag spielt das deutsche Handball-Nationalteam in Nürnberg, in der Spielstätte des HC Erlangen. Die Partie ist ein weiterer Beleg für den Status, den die Mittelfranken inzwischen haben.

Jetzt braucht Carsten Bissel keine Geduld mehr, wenn er vor dem Fernseher sitzt und die Tabelle der Handball-Bundesliga eingeblendet wird. Für gewöhnlich ist zunächst ja nur die obere Hälfte zu sehen, und erst dann, wenn erwähnt ist, dass die SG Flensburg-Handewitt nach wie vor auf Platz eins steht und der THW Kiel auf Platz zwei folgt, werden jene neun Mannschaften aufgeführt, die sich in der unteren Hälfte einfinden. In den ersten Monaten der zurückliegenden Spielzeit hat Bissel immer warten müssen. "Mittlerweile", sagt er, "kommt der HC Erlangen sofort."

Es gibt Vereine, die im Gestern verankert zu sein scheinen. Der HCE hingegen lebt im Heute

Carsten Bissel, 55, ist der Aufsichtsratsvorsitzende des Klubs, der die jüngste Bundesliga-Saison gerade auf Platz neun beschlossen hat - weit hinter Flensburg-Handewitt und Kiel, aber in der oberen Hälfte der Tabelle. "Bis zum November hatten wir Probleme", sagt Bissel, "da hatte ich schon ein bisschen Magengrummeln, aber es hat sich alles zum Guten gewendet." Die Erlanger haben nicht nur einen einstelligen Tabellenplatz erzielt, sie haben 30 Pluspunkte geholt, mehr als jemals zuvor in der Bundesliga.

Es gibt Vereine, die irgendwie im Gestern verankert zu sein scheinen. Der VfL Gummersbach etwa, in der Vergangenheit der beste Klub des ganzen Landes, in der Gegenwart aber in die zweite Liga abgestiegen, ohne dass sich absehen lässt, was die Zukunft bereithält. Die Erlanger hingegen leben, vielleicht auch, weil das Gestern so kurz ist, im Heute. Sie sind in der Gegenwart erfolgreich - und haben eine verheißungsvolle Zukunft vor sich. Die Mittelfranken sind jetzt: ein Versprechen.

Auch dem Verband sind die Fortschritte der vergangenen Jahre nicht verborgen geblieben, und so schickt er die beste Mannschaft seines Hauses an diesem Wochenende in die Erlanger Spielstätte: Die deutsche Nationalmannschaft trägt ihr EM-Qualifikationsspiel gegen den Kosovo in der Nürnberger Arena aus. Das ist durchaus ein Beleg dafür, welchen Status der HCE inzwischen inne hat.

Die Entwicklung, in der Halle und in den Klubbüros, "das ist sehr hoch einzuschätzen", betont Bissel, der allerdings nicht Bissel wäre, wenn er sich damit begnügen würde. Genug, um sich nicht mehr im Abstiegskampf herumzuschlagen, ist nie genug, und deshalb sagt Bissel: "Wenn man Neunter geworden ist und nicht das Ziel hat, sich noch zwei, drei Plätze nach oben zu hangeln, wäre das der falsche Weg. Wir werden darum kämpfen, aber wir werden das in Ruhe machen."

Steinert geht nach Magdeburg - "der Verlust einzelner Spieler ist kompensierbar", sagt Bissel

Ruhe. Die hat Erlangen schon im Herbst des vergangenen Jahres ausgezeichnet. Da war der HCE noch ein Klub im Konjunktiv, den Fragen umtrieben wie diese: Wo stünde die Mannschaft, wenn das Verletzungspech sie nicht heimgesucht hätte? Oder: Was wäre, wenn in dem ein oder anderen Spiel das Glück auf Erlanger Seite gewesen wäre? Der HCE verschusselte Spiel um Spiel, manches Mal unglücklich und äußerst knapp, doch auch wenn selbst bei den Menschen, die auf den Tribünen saßen, auch nicht immer alles glatt läuft, erregte die Mannschaft kein Mitgefühl - sie zog den Unmut der Leute auf sich. Erlangen steckte im Abstiegskampf, die Lage war zwar noch nicht akut, aber zumindest angespannt, und weil das Tief einer Mannschaft in erster Linie das Tief ihres Trainers ist, geriet Adalsteinn Eyjolfsson bald in die Kritik. Manchmal ist aber entscheidender, dass etwas nicht geschieht - nicht, dass etwas geschieht. Die Verantwortlichen hielten an Eyjolfsson fest, und nun blickt der Klub auf das erfolgreichste Jahr seiner jungen Bundesligageschichte zurück.

Worauf kommt es nun aber an, um diesen Weg fortzuführen?

"Wichtig ist eine homogene Gruppe aus Spielern, die sich selbst nicht zu wichtig nehmen", sagt Bissel. Auch das hat Erlangen in der vergangenen Saison ja ausgemacht: dass die Mannschaft nicht bloß eine Gruppe aus Spielern war, sondern eine Einheit - und dass einer zur Stelle war, wenn ein anderer passen musste. Nicolai Theiliger etwa verpasste beinahe die gesamte Vorrunde. Also sprang Nico Büdel ein - und ist nun Nationalspieler und als solcher Teil jener Mannschaft, die in Nürnberg auf den Kosovo trifft.

Auch deshalb macht es Bissel keine Sorgen, dass sich etwa in Rückraumspieler Christoph Steinert der zweitbeste Erlanger Torschütze der zurückliegenden Spielzeit zum SC Magdeburg verabschiedet. "Der Verlust einzelner Spieler ist kompensierbar", sagt Bissel. Auch ohne Steinert, da ist er sich sicher, hat der HC Erlangen beste Chancen, auch in der nächsten Saison einen einstelligen Platz zu erreichen. Dann, und das hofft Bissel, müsste er sich auch in Zukunft nicht gedulden, wenn im Fernsehen die Bundesligatabelle eingeblendet wird.

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SZ vom 15.06.2019
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