Es war ein symbolträchtiger Moment, der sich bereits am Sonntag vor einer Woche in der EM-Vorrunde in Trondheim ereignete, nach der ebenso brisanten wie prestigeträchtigen Partie zwischen dem WM-Zweiten und dem WM-Dritten, zwischen Co-Gastgeber und Rekordweltmeister. Die großen und ruhmreichen Franzosen hatten verloren, 26:28, und waren damit schon ausgeschieden, ihr Spielmacher Nikola Karabatic, der dreimalige Welthandballer, nahm Norwegens Regisseur Sander Sagosen in den Arm, tätschelte ihm anerkennend den Rücken und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was von der Tribüne so aussah wie: "Mach's gut, mein Junge!" Dann trennten sich die Männer, der 35 Jahre alte Karabatic flog wenig später heim, sein elf Jahre jüngerer Klubkollege bei Paris Saint-Germain reiste weiter nach Malmö zur Hauptrunde.
Dort wurde Sagosen an diesem Sonntagabend erneut von einem Vereinskameraden umarmt, diesmal vom Schweden Kim Ekdahl du Rietz. Der hatte mit seiner Landesauswahl in Malmö gerade die letzte Chance aufs Halbfinale verspielt, durch ein 20:23 gegen Norwegen. Er habe Sagosen Glück gewünscht für den weiteren Weg, erzählte du Rietz später. Von den berühmten Rückraumrecken aus Paris fehlte im Grunde nur der Däne Mikkel Hansen in der Reihe der Umarmer und Rückentätschler. Der Olympiasieger und Weltmeister hatte mit seiner Auswahl allerdings auch schon abreisen müssen, ehe es zu einer Begegnung kommen konnte.
Handball-EM:Fiasko für die Experten
Frankreich scheitert und muss sich erneuern. Auf eines kann sich der Rekordweltmeister verlassen: Starke Talente drängen nach.
Von den vier großen Titelanwärtern bei dieser EM, die alle auf die nördliche Schiene des Turniertableaus gesetzt worden waren, ist überraschenderweise nur noch eine in der Spur, Norwegen. Und das hat sehr viel mit Sander Sagosen zu tun, dem 24 Jahre alten Spielgestalter. Nach fünf Partien führt der Mann mit den brav gescheitelten Haaren die Torjägerliste an mit 42 Treffern, acht mehr als der zweitplatzierte Österreicher Nikola Bilyk. Sagosen steht auch an der Spitze der Vorlagengeber, mit 33 Assists. Das bedeutet: Er hat bei rund der Hälfte der 153 norwegischen Turniertore seine Hände im Spiel gehabt. "Er spielt gerade den besten Handball seines Lebens", findet Norwegens Nationaltrainer Christian Berge. Die Medien in dem skandinavischen Land haben den 1,95 Meter großen und 95 Kilo schweren Spielgestalter bereits zum "König im Norden" ausgerufen.
"Für mich persönlich geht es nur um eine Farbe - Gold"
Individuelle Auszeichnungen interessieren den aus dem EM-Vorrundenort Trondheim stammenden Spieler freilich wenig, versichert er. "Ich ziele auf die Medaillen", sagte er nach dem Sieg über Schweden, "danach greift die ganze Mannschaft." Eine Medaille ist das offizielle EM-Ziel der Norweger, es wäre ihre erste. Aber nach den verlorenen Endspielen bei den Weltmeisterschaften 2017 (gegen Gastgeber Frankreich) und 2019 (gegen Gastgeber Dänemark), sagt Sagosen entschieden: "Für mich persönlich geht es nur um eine Farbe - Gold. Und ich glaube, wir haben die Mannschaft dafür."
Nationaltrainer Berge weiß natürlich um die Stärken seines zentralen Spielers, warnt aber vor einem Personenkult. "Sander ist einer der Besten der Welt", sagt er: "Aber er kann nicht alle Spiele allein gewinnen. Wir müssen wie eine Maschine kommen. Alle Spieler müssen etwas beitragen." Die Mahnungen kommen nicht von ungefähr, denn die Norweger haben die Halbfinal-Teilnahme ja selbst dann noch nicht sicher, wenn sie am Dienstag gegen Island auch das sechste EM-Spiel in Serie gewinnen sollten. In der abschließenden Hauptrundenpartie gegen Slowenien am Mittwoch besteht trotz allem die Gefahr, dass auch die Norweger vorzeitig heimfliegen müssen. Bereits bei der EM 2018 haben sie in einem komplizierten Dreiervergleich den Einzug ins Semifinale um ein Tor verpasst; ein ähnliches Szenario ist erneut denkbar.
Sander Sagosen will das unter allen Umständen verhindern, diese Entschlossenheit war ihm vom ersten EM-Spiel an anzusehen. Und er ist darauf eingestellt, möglicherweise noch mehr gefordert zu werden als bisher schon. "In den WM-Finals habe ich nicht meine beste Leistung gezeigt", erzählte er vor dem Turnierbeginn: "Also habe ich mich gefragt, wie muss ich mich körperlich und mental vorbereiten, um in solchen Situationen eine bessere Leistung zu bringen? Ich habe viel daran gearbeitet."
Auch wenn Sagosen als nächster Welthandballer des Jahres gehandelt wird, als Nachfolger von Nikola Karabatic und Mikkel Hansen, will er sich immer noch weiter verbessern. Nach drei Jahren in der Weltauswahl von Paris Saint-Germain wechselt er im Sommer zum deutschen Rekordmeister THW Kiel, wo er in dem Kroaten Domagoj Duvnjak einen weiteren Welthandballer an der Seite hat, von dem er lernen kann. "Die französische Liga wird allmählich gut, aber die Bundesliga ist die beste Liga der Welt", erklärte Sagosen seine Beweggründe: "Physisch fordert sie einen viel mehr, deshalb gehe ich jetzt dahin, solange ich den Körper dafür habe. Je älter man wird, desto schwieriger wird es." Aber noch ist er jung. Und vor allem schier unaufhaltsam aufstrebend.