EM in Österreich:Deutschlands größte Handballerin

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Ehrgeizig  und explosiv: Viola Leuchter hat oft freie Wurfbahn. Foto: Marco Wolf/dpa (Foto: Marco Wolf/dpa)

1,87 Meter, Linkshänderin im rechten Rückraum, gewaltiger Wurf: Viola Leuchter verkörpert die Medaillen-Hoffnungen des deutschen Nationalteams bei der EM in Österreich. Die sind so berechtigt wie lange nicht mehr.

Ulrich Hartmann

Wenn man Viola Leuchter fragt, wo sie beim Handball ihre größte Stärke sieht, dann antwortet die 20 Jahre junge Nationalspielerin ziemlich trocken: „Ich kann ganz gut werfen.“ Das stimmt zwar, ist aber in dieser leicht lakonischen Formulierung heillos untertrieben. Ehrfürchtige Mitspielerinnen in der Nationalmannschaft sprechen bei Leuchters Würfen aus der zweiten Reihe von einer „krassen Explosivität“.

Die 1,87 Meter lange Leuchter ist buchstäblich die größte deutsche Hoffnung im rechten Rückraum. „Ich bin eine Shooterin“, sagt sie mit demselben etwas schalkhaften Unterton, mit dem sie in Interviews gern auf Fragen antwortet. Zum Beispiel auch auf jene, warum sie eigentlich als Rechtshänderin im rechten Rückraum spielt. Das liegt an jenem Kuriosum, dass sie zwar im Alltag alles mit rechts macht – einzig Handball spielt sie mit links. Sie beteuert, sie wisse selbst nicht warum, betont aber, dass ihre Eltern ihr früher nicht die rechte Hand auf den Rücken gebunden hätten. Tatsächlich könne sie mit rechts nicht annähernd so fest werfen wie mit links.

Mit der ebenso sprung- wie wurfgewaltigen Leuchter als größter Spielerin macht sich die deutsche Mannschaft noch ein paar Hoffnungen mehr, bei der Europameisterschaft in Österreich, Ungarn und der Schweiz endlich mal ein Halbfinale zu erreichen. 16 Jahre ist das letzte her für deutsche Handballerinnen. Leuchter sagt, sie sei vom Typ her eher unbekümmert, erklärt mit dieser Unbekümmertheit aber: „Es ist an der Zeit, dass wir mal einen von den Großen schlagen.“ Die Großen sind: Norwegen, Frankreich, Dänemark und Schweden – in dieser Reihenfolge die vier besten Nationen jüngst bei Olympia.

Ihr Traum: bei den Olympischen Spielen mit dem Nationalteam zu gewinnen

Die Zahl sieben spielt in Leuchters Handballtraum eine mystische Rolle. Mit sieben Jahren hat sie das Handballspielen angefangen, und sie trägt wie ihr Vater und ihr Opa und wie ihr literarischer Lieblingsheld Harry Potter beim Quidditch am liebsten die Rückennummer sieben. Im Nationalteam ist es die 77.

Obwohl sie seit 13 Jahren Handball spielt und 2021 mit der deutschen U17 EM-Zweite wurde sowie 2022 mit Bayer Leverkusen deutsche A-Jugend-Meisterin, hat Leuchter allein in den vergangenen zwölf Monaten so ziemlich alles erlebt, was man in einer Handballkarriere erleben kann: Vor einem Jahr feierte sie bei der Weltmeisterschaft in Dänemark mit 19 Jahren ihr Turnierdebüt, war mit 25 Toren beste deutsche Schützin, riss sich im letzten WM-Spiel den Außenmeniskus, erhielt während der Rückkehr aus dem Krankenhaus die Nachricht, dass sie zur besten Nachwuchsspielerin der WM gewählt wurde, quälte sich durch eine viermonatige Reha, wechselte von Bayer Leverkusen zum deutschen Meister SG BBM Bietigheim (der im Sommer nach Ludwigsburg umgezogen ist und jetzt unter HB Ludwigsburg firmiert), kehrte rechtzeitig zu den Olympischen Spielen aufs Feld zurück, spielt jetzt mit Ludwigsburg in der Champions League, war mit auf dem Feld, als diese Mannschaft Ende Oktober erstmals seit dreieinhalb Jahren wieder ein Bundesligaspiel verlor und träumt jetzt ein bisschen davon, mit dem Nationalteam eine Medaille zu gewinnen. Sollte das bei dieser EM noch nicht klappen, dann ja vielleicht in zwölf Monaten bei der Heim-WM.

Leuchter, die vor zweieinhalb Jahren das Abitur gemacht hat und danach ein Jahr zur Sportfördergruppe der Bundeswehr gehörte, ist momentan Vollprofi, fokussiert sich ganz aufs Handballspielen, liebäugelt aber mit einem parallelen (Fern-)Studium in Germanistik oder Literatur oder Journalismus. Auch ein sportliches Engagement im Ausland, so wie von den aktuellen Nationalspielerinnen fünf in Frankreich, Ungarn und Rumänien spielen, findet sie grundsätzlich reizvoll – aber nun ist sie ja erst seit ein paar Wochen in Ludwigsburg und fühlt sich dort pudelwohl. Bei der EM gehören mit Jenny Behrend, Mareike Thomaier, Xenia Smits und Antje Döll gleich vier Ludwigsburger Kolleginnen zum deutschen Team.

In der Reha lernte sie viel über den Körper und die Funktion von Schmerzen

Die schwere Verletzung vor einem Jahr war ein Schlag. Zunächst prägte Angst den Blick in die Zukunft, dann folgte eine langwierige Reha noch bei ihrem damaligen Verein. „Ich durfte die Reha bei den Fußballern von Bayer Leverkusen machen“, erzählt sie, „da waren die Bedingungen natürlich optimal.“ In dieser Zeit habe sie viel gelernt „über den Körper und die Funktion von Schmerzen“. Sie könne Signale des Körpers jetzt besser verstehen. „Insofern war diese Verletzungspause, auch wenn ich gerne darauf verzichtet hätte, für mich extrem lehrreich und ich habe das Gefühl, persönlich daran gewachsen zu sein.“ Es mache was mit einem, „wenn man sich aus einem Loch wieder herausarbeiten muss“. Geholfen hat ihr in dieser schwierigen Zeit auch, das Ziel Olympia vor Augen zu haben.

Erstmals seit 16 Jahren war eine deutsche Frauen-Handball-Mannschaft wieder bei Olympischen Spielen am Start. „Das miterleben zu dürfen, war mega“, sagt Leuchter und beklagt sich auch nicht darüber, dass man im Viertelfinale an den französischen Gastgeberinnen gescheitert ist und mal wieder ein Halbfinale verpasst hat.

Im Laufe des olympischen Turniers verlor die Mannschaft halbwegs knapp gegen drei der großen vier Nationen: mit drei Toren gegen Schweden, mit einem gegen Dänemark und mit dreien gegen Frankreich. „Der Abstand zu diesen Mannschaften ist nicht groß – aber wir brauchen von allen Spielerinnen einen guten Tag, um die Großen schlagen zu können“, sagt Leuchter.

Bei der EM bekommen sie dazu neue Chancen. Nach einer Vorrunde in Innsbruck mit den Gegnern Ukraine (Freitag), Niederlande (Sonntag) und Island (Dienstag) lauern in der Hauptrunde in Wien die Kontrahenten Norwegen und Dänemark. Mindestens einen von beiden werden sie besiegen müssen, um ins Halbfinale einzuziehen. Vielleicht kann Viola Leuchter dabei helfen. Man sagt, sie könne ganz gut werfen.

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