Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Handball-EM:Abwehrmonster, Schönspieler und Gnadenlose

Erfüllen sich die dänischen Triple-Träume? Oder führt Nikola Karabatic die Franzosen zum Triumph? Und wie stehen die Chancen der deutschen Handballer? Die EM-Favoriten im Überblick.

Von Tim Brack und Jakob Schätzle

Frankreich

Nikola Karabatic wird auch bei diesem Turnier seinen wuchtigen Körper in jede Abwehr werfen, gnadenlos gegenüber sich selbst und auch dem Gegner. Der 35-Jährige geht in seine neunte EM, ist immer noch das Gesicht der französischen Mannschaft. Unter seiner Regie haben "Les Bleues" das Kunststück vollbracht, das die Dänen noch aufführen wollen: Das Triple aus WM-, Olympia- und EM-Sieg zu schaffen, alle wichtigen Titel hielten die Franzosen zwischen 2008 und 2010 als erste und bisher einzige Mannschaft. Aus den glorreichen Zeiten sind neben Karabatic nur noch das Flugwunder Luc Abalo, der bullige Kreisläufer Cedric Sorhaindo und der immer noch erstaunlich flinke Michael Guigou dabei. Um die Routiniers herum hat Trainer Didier Dinart Stück für Stück eine neue Generation aufgebaut. Individuell sind die Franzosen immer noch so stark, dass sie zum Favoritenkreis gehören müssen. Bleibt nur die Frage, ob sie schon wieder reif genug für einen Titel sind.

Schweden

Druck kann hemmen im Sport, er kann aber auch beflügeln. Die schwedische Nationalmannschaft wird sich jedenfalls nicht darüber beschweren können, zu wenig davon zu haben. Die Erwartungen an die Mannschaft von Kristjan Andresson, der in der Bundesliga auch die Rhein-Neckar Löwen trainiert, sind hoch. 2018 verpassten die Schweden EM-Gold nur knapp, das Finale gegen Spanien ging verloren. Es war dennoch das beste Ergebnis nach Jahren voller Enttäuschungen für die stolze Handballnation, die mit vier Titeln (der letzte 2002) noch immer Rekord-Europameister ist. Die Teil-Heim-EM (auch Norwegen und Österreich sind Gastgeber) bietet die wohl günstigste Gelegenheit, bei der die schwedischen Handballer ihren Aufschwung mit einem Titel krönen könnten. Mangelnde Unterstützung des Publikums wird kaum das Problem sein, die Schweden werden alle ihre Spiele in der Heimat bestreiten. Mit Spielmacher Jim Gottfridsson von der SG Flensburg-Handewitt haben sie in ihren Reihen zudem einen der Besten auf dieser Position - von seiner Verfassung wird viel abhängen.

Kroatien

Es gibt Phasen, da scheint Domagoj Duvnjak aus purem Willen zu bestehen. Meistens trägt er dann die Farben Kroatiens. In den vergangenen Jahren musste er immer den Großteil der Last schultern, wenn es darum ging, seine Nationalmannschaft zum Erfolg zu führen. Manchmal klappte das, zuletzt aber immer seltener. Bei der vergangenen Heim-EM stand am Ende Platz fünf, eine große Enttäuschung. Bei diesem Turnier haben die Kroaten nun eine Gruppe erwischt, in der sie Erster werden müssen (gegen Serbien, Montenegro und Weißrussland). Wenn sie weiterkommen, landen sie wie die deutsche Mannschaft in der leichteren Hauptrundengruppe. Die Chancen stehen also gut auf eine Medaille - der Schritt zum Titel könnte aber zu groß geraten. Auch wenn Duvnjak den begnadeten Spielmacher Luka Cindric an seiner Seite weiß.

Spanien

Keine Mannschaft hat in der Geschichte der Europameisterschaft mehr Medaillen gewonnen als die spanische. Bis es mal Gold wurde, war allerdings viel Geduld gefragt - erst 2018 gelang der Sieg. Nun gehen die Spanier erstmals das Projekt Titelverteidigung an und dürfen durchaus hoffen, zu ihrer Sammlung eine zweite Goldmedaille hinzuzufügen. Den Gruppensieg werden sie mit der deutschen Mannschaft ausfechten. Ein Halbfinale mit spanischer Beteiligung ist aufgrund der übrigen möglichen Hauptrundengegner auch ohne zu viel Vorstellungskraft denkbar. "Das Team hat sehr gut gearbeitet und ist sehr motiviert", sagte Trainer Jordi Ribera vor Turnierbeginn. Ribera kann sich wieder auf eine starke Rückraum-Kreis-Achse verlassen, mit dem unverwüstlichen Kreisläufer Julen Aguinagalde und Anspielern wie Alex Dujshebaev und dem erfahrenen Raul Entrerrios. Auf Rechtsaußen wird wieder Ferran Solé wirbeln, der sich bei der vergangenen EM mit seiner unerschütterlichen Effizienz vor dem Tor die Wahl ins All-Star-Team mehr als verdiente.

Norwegen

Bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften haben die Norweger schon gezeigt, dass sie sich in der Weltelite wohlfühlen, zweimal erreichten sie Platz zwei. Der siebte Rang bei der EM 2018 kam daher etwas überraschend. Bei diesem Turnier wollen sie nun vom Heimvorteil profitieren - und von Sander Sagosen (Bild). Der 24-jährige Mittelmann ist der Schlüsselspieler. Aktuell steht er noch bei Paris-Saint Germain unter Vertrag, ab Juli spielt er beim deutschen Rekordmeister THW Kiel. Die einfachste Gruppe haben die Norweger nicht erwischt - Gegner sind Mitfavorit Frankreich, die aufstrebenden Portugiesen und EM-Neuling Bosnien und Herzegowina - trotzdem könnte das Team von Trainer Christian Berge am Ende auf Platz eins landen. Heim-EM sei dank: Die ersten Spiele werden allesamt im heimischen Trondheim ausgetragen. Mit einer Leistung wie bei den letzten beiden Weltmeisterschaften ist den Norwegern der Titel zuzutrauen.

Dänemark

Machen die Dänen es den Franzosen nach? Der Olympiasieger und Weltmeister hat gute Aussichten, auch die Europameisterschaft zu gewinnen - und damit alle wichtigen Titel im Handball zu halten. Wie man eine EM gewinnt, wissen die Dänen, 2008 und 2012 klappte es bereits. In der Vorbereitung aber schlichen sich ein paar leichte Sorgenfalten auf die Stirn von Trainer Nikolaj Jacobsen, denn sein Spielmacher Rasmus Lauge musste mit einer Wadenverletzung die beiden letzten Testspiele aussetzen. Ob er zum Auftakt gegen Island am Samstag fit wird, ist fraglich. Noch ungewisser ist die Lage bei Rechtsaußen Lasse Svan (Wade und Schulter), bei dem es sich von Tag zu Tag entscheiden wird, ob er ins Turnier einsteigen kann. Die beiden letzten Testspiele vor EM-Start zeigten aber auch, wie breit der dänische Kader besetzt ist. Gegen die Mitfavoriten Frankreich und Norwegen gewann das dänische Team ohne Lauge und angeführt vom immer noch zottelhaarigen Mikkel Hansen (Bild) jeweils knapp. Dank ihres technisch anspruchsvollen und schnellen Handballs führen die Skandinavier auch bei den Buchmachern die Favoritenliste an. Als weiteren Pluspunkt können die dänischen Spieler einige Unterstützung vom Publikum erwarten. All ihre Partien der Vor- und Hauptrunde finden in Malmö statt, keine Autostunde von Kopenhagen entfernt.

Deutschland

Die deutsche Mannschaft muss sich auch bei diesem Turnier auf ihr Herzstück verlassen: die Abwehr. Mit den Kielern Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek im Zentrum und den Torhütern Johannes Bitter und Andreas Wolff gehört der Defensivverbund zu den besten der Welt. Beherzt zupackende Hünen sind auch die Basis für schnelle Konter. In den Vorbereitungsspielen hat sich gezeigt, dass sich das Team von Bundestrainer Christian Prokop dort verbessert hat. Bei der Heim-WM im vergangenen Jahr war das Tempospiel meistens noch etwas lahm. Die sogenannten einfachen Tore aus Gegenstößen brauchen die deutschen Handballer dringend, denn ihr Positionsspiel müssen sie erst noch finden. Gleich sieben Rückraumspieler (davon drei Spielmacher) sagten dem Bundestrainer verletzt ab. In der Abstimmung ruckelte es vor Turnierbeginn deswegen noch merklich. In der Gruppe wird sich im Spiel gegen Spanien Platz eins entscheiden. Danach ist vieles möglich. Wenn das deutsche Team in einen Flow kommt, vielleicht sogar der Titel. Beim EM-Gewinn 2016 gelang dieses Kunststück schon einmal.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4748450
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.