Süddeutsche Zeitung

Deutsche Handballer bei der EM:Zu Fuß in die Halle, ungeduscht wieder raus

Die Handball-EM ist ein Fall für Galgenhumor: Im Corona-Chaos geschehen ständig noch absurdere Dinge. Aber was machen die arg dezimierten Deutschen? Die entwickeln in der Notlage ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl.

Von Carsten Scheele und Ralf Tögel

Welche Geschichte wäre besser geeignet, um die ganze Absurdität dieser Handball-Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei zu beschreiben, als jene, die Christoph Steinert widerfahren ist? Im letzten Vorrundenspiel gegen Polen war der Profi des HC Erlangen am vergangenen Dienstag der gefeierte Mann, an seinem 32. Geburtstag traf er neun Mal, er war bester Torschütze im deutschen Team. Steinert ist ein Spätberufener, Bundestrainer Alfred Gislason hat ihn wegen seiner Abwehrstärke und Flexibilität ins Nationalteam befördert, er dankte es mit tadellosen Leistungen. Doch mitten in die Euphorie kam die Nachricht: positiver PCR-Testbefund.

Damit stieg die Zahl der Corona-infizierten deutschen Nationalspieler auf zwölf, die Zahl der ursprünglich nominierten 18 Spieler war auf sechs geschrumpft. Gislason sprach von einer "Corona-Explosion" und beorderte fleißig Nachrücker nach Bratislava, neun Spieler insgesamt. Wie seine elf infizierten Teamkollegen steckte Steinert vor dem ersten Hauptrundenspiel gegen Spanien am Donnerstagabend also in der Isolation. Das Essen wurde ihm vor die Tür seines Einzelzimmers gebracht, ansonsten konnte er nichts tun: außer warten.

Doch kurz vor Spielbeginn ploppte eine Nachricht auf Steinerts Handy auf: Er sei falsch positiv getestet worden - und nun doch spielberechtigt. Kleines Problem: Die Mannschaft war bereits in die Halle unterwegs, also packte Steinert eilig seine sieben Handball-Sachen, von denen die Hälfte fehlte, weil sie in einem Raum ausgegeben wurden, den die Infizierten nicht betreten durften. Er schulterte seine Tasche und sprintete zu Fuß in die Halle. "Als wir mit dem Aufwärmen fertig waren, kam Steini reingerannt", erinnerte sich Coach Gislason, die erste Halbzeit war für den Linkshänder gelaufen. Der sprach von einer "Achterbahn der Gefühle", etwas Vergleichbares habe er noch nie erlebt "und möchte ich auch nicht mehr erleben".

Das Spiel gegen Spanien, den favorisierten Titelverteidiger, ging dann 23:29 verloren. Die Iberer hatten allerdings auch nur zwei Corona-bedingte Ausfälle zu beklagen, sie waren sichtbar besser eingespielt und deutlich überlegen.

Gegen Polen war der Ersatzmann für Torwart Jogi Bitter: ein Rückraumspieler

Gislason musste angesichts der jüngsten Volte in dem "absoluten Chaos" schon lachen, als er auf die Vorbereitung für das zweite Hauptrundenspiel gegen Norwegen am Freitagabend, bei dem sich sein Team erneut 23:28 geschlagen geben musste, angesprochen wurde. Dabei dürfte der Spaßfaktor bei dieser EM für den Isländer längst überschaubar sein. Keiner seiner Amtskollegen muss elf eingeplante Akteure ersetzen. Vor dem Polen-Spiel etwa stand im nachgereisten Jogi Bitter ein einziger etatmäßiger Torhüter im deutschen Kader. Bitter, 39, hatte zwar lange vor der EM seinen Rücktritt erklärt und war kurz vor dem Turnier zum vierten Mal Vater geworden - er stieg trotzdem in den Flieger und ist nun die Nummer eins im deutschen Tor.

Für den Notfall war in dieser Partie übrigens Paul Drux als Ersatztorwart vorgesehen, er ist im normalen Handballer-Leben Rückraumspieler. Das wäre so, als ob beim FC Bayern für den Fall, dass Manuel Neuer ausfällt, plötzlich Leon Goretzka als zweiter Torwart parat stehen müsste. Was also blieb dem Bundestrainer in dieser Gemengelage anderes übrig als Galgenhumor?

Schon jetzt ist dieses EM-Turnier eines, das lange in Erinnerung bleiben wird. Es hat zudem die Diskussion forciert, ob derlei Wettbewerbe in Zeiten einer aggressiv ansteckenden Coronavirus-Variante überhaupt Sinn ergeben. Die DHB-Delegation hatte in der Nacht vor dem Spanien-Spiel mit dem europäischen Handballverband (EHF) und Bundesliga-Vertretern stundenlang erörtert, ob zumindest eine Verlegung der Spanien-Partie möglich sei. Liga-Präsident Uwe Schwenker brachte seine Bedenken zum Ausdruck, es sei ja letztlich nicht praktikabel, sagte er, die immer wieder aufs Neue dezimierte Mannschaft mit "unendlich vielen Spielern aus der Bundesliga nachzuladen".

Sogar eine vorzeitige Abreise des deutschen Teams wurde intensiv diskutiert. Die EHF lehnte beides ab, verwies auf feststehende Sendepläne, vertragliche Verpflichtungen und warnte vor "komplexen Folgen, unter anderem auf sportlicher und wirtschaftlicher Ebene". Die EM soll unter allen Umständen beendet werden, dabei scheint der Höhepunkt der Infektionswelle noch nicht erreicht zu sein. Am Donnerstag verloren auch die bis dahin ungeschlagenen Isländer ihr erstes Spiel - die Nordeuropäer mussten auf fünf frisch infizierte Akteure verzichten.

Letztendlich waren es die deutschen Spieler, die sich vehement für einen Verbleib im Turnier aussprachen. Man habe im Mannschaftskreis darüber diskutiert, wie man "das Turnier fortsetzen und zu Ende bringen" könne, erklärte DHB-Kapitän Johannes Golla, "alles andere war nicht unser Thema" - zumal man selten einen "Zusammenhalt wie in den vergangenen Tagen" erlebt habe, betonte der 24-Jährige, der trotz seines jungen Alters zu den erfahrenen Kräften im Team zählt.

Immerhin, und das wäre eine gute Nachricht, scheint die Infektionskette erstmal durchbrochen zu sein

Die Notlage schweißt zusammen, und in der Tat hat eine DHB-Auswahl lange nicht mehr so begeistert wie diese. Angesichts all der Probleme, die bereits vor dem Turnier mit zahlreichen Absagen und Rücktritten begonnen hatten, hat die Mannschaft einen Korpsgeist entwickelt, der sie noch weit tragen könnte - entweder bei dieser EM, oder bei den folgenden Turnieren. Gislason hatte in weiser Voraussicht einen Umbruch angestoßen und einen 35 Spieler starken Kader benannt, aus dem er jetzt schöpfen kann. Es ist bemerkenswert, wie viel Qualität in dieser Gruppe steckt, aus der sich immer wieder Talente wie Julian Köster oder Torwart Till Klimpke hervortun.

Immerhin, und das wäre mal eine gute Nachricht, scheint die Infektionskette zunächst durchbrochen zu sein. Seit Donnerstag sind in der deutschen Mannschaft keine weiteren Fälle bekannt geworden; nur bei Co-Trainer Erik Wudtke hatte sich bei der Testung ein "unklares Bild" ergeben. Damit sich dieser Trend fortsetzt, wurden die Kontakte auf ein Minimum reduziert. Jeder bleibt auf seinem Einzelzimmer, trainiert wird gar nicht mehr, die Teamsitzungen sind virtuell, Spieler holen sich ihr Essen einzeln am Buffett. Erst bei der Abfahrt in die Halle kommen die Protagonisten wieder zusammen. Ein ganz neues, seltsames EM-Gefühl.

Auf eines ist immerhin Verlass: Es werden sich weitere kuriose Begebenheiten einstellen. "Wir sind nach dem Spiel ungeduscht in den Bus und sofort auf unsere Zimmer", beschrieb Jogi Bitter den Ablauf des Abends nach dem Spanien-Spiel. Die gewohnten Freiheiten, die man als Nationalspieler sonst genieße, seien in Bratislava "komplett weg".

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