Süddeutsche Zeitung

Handball-EM:Der Balldieb mit dem Tape

Timo Kastening hilft der deutschen Nationalmannschaft mit seiner Unbekümmertheit - gegen Kroatien geht es für die DHB-Auswahl nun aber um alles.

Von Joachim Mölter, Wien

Sportler nehmen häufig einen Klebeverband her, um ihre Gelenke zu stabilisieren, der Handballer Timo Kastening benutzt ihn auch als Gedächtnisstütze: Er notiert sich da Dinge, die er während des Spiels nicht vergessen will. Auf dem Tape, das er am Donnerstag um sein linkes Handgelenk gewickelt hatte, stand zum Beispiel, in Kurzform: Wenn Weißrusslands Spielmacher Boris Puchowski tief in die Mitte vordringt, passt er den Ball oft mit der linken Hand nach außen. Für Kastening, der als Rechtsaußen die linke Angriffsseite des Gegners verteidigt, ist das ein wichtiger Hinweis, "damit ich den Ball klauen kann".

Das gelingt Kastening bei dieser Europameisterschaft ganz prima. "Der Timo schleicht sich da unten immer von 1,50 Meter irgendwo raus und klaut dann den Ball. Das macht er überragend", lobte Kapitän Uwe Gensheimer den Kleinsten in der Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB), der 1,80 Meter misst. "Ich kann mich immer mal zwischen den Halbverteidigern verstecken und dann dazwischengehen", erklärte Kastening. Gerade zu Beginn des ersten Hauptrundenspiels knöpfte er den Weißrussen einige Male den Ball ab; er leitete damit nicht nur erfolgreiche Gegenstöße ein, sondern im Grunde den ganzen 31:23 (18:11)-Sieg, mit dem sie ihre Chance auf den angestrebten Halbfinaleinzug wahrte.

Nach der Partie wurde Kastening folgerichtig als "Man of the Match" ausgezeichnet, als bester Spieler der Partie; er hatte mit sechs Würfen sechs Tore erzielt. "Da kann man sich heute drüber freuen", sagte der Rechtsaußen über die Ehrung, "aber wenn du gegen Kroatien null von drei wirfst, ist das schnell wieder vergessen." Die bislang verlustpunktfreien Kroaten (4:0) sind am Samstag (20.30 Uhr/ZDF) nächster Gegner der deutschen Handballer (2:2), für die es schon um alles geht. Bei einer Niederlage können sie ihre Halbfinal-Hoffnungen begraben; selbst ein Sieg kann unter Umständen nicht reichen. Und für den, das wissen die deutschen Handballer, müssen sie sich mächtig anstrengen. "Heute haben wir eine gute Leistung gezeigt", sagte Kastening nach dem Weißrussland-Spiel, "übermorgen brauchen wir eine überragende."

"Die Duelle mit den Kroaten sind immer heiß und intensiv", erinnerte Bundestrainer Christian Prokop an den jüngsten Vergleich, den seine Mannschaft vor einem Jahr bei der Heim-WM in Köln nur knapp gewonnen hatte (22:21). Aber nicht nur deswegen hat die DHB-Auswahl viel Respekt vor den Kroaten; sie haben eine "ganz unangenehme 5-1-Abwehr", weiß der Defensivspezialist Hendrik Pekeler. Und ihr Angriff sei sogar noch unangenehmer: "Da haben sie drei Individualisten, die man vor Aufgaben stellen muss." Der beim THW Kiel tätige Domagoj Duvnjak und seine Kollegen Igor Karacic (Kielce) und Luka Cindric (Barcelona) können das Spiel lenken wie nur wenige; dazu kommt im Rückraum der gefährliche Linkshänder Luka Stepanovic. "Das wird auf jeden Fall ein interessantes Spiel", glaubt Kreisläufer Jannik Kohlbacher, "sehr emotional, sehr hitzig." Das Publikum in der Wiener Stadthalle wird sicher seinen Teil dazu beitragen, einen Heimvorteil dürfte die deutsche Mannschaft nicht haben: Auch die Kroaten haben in der österreichischen Hauptstadt einen großen Rückhalt, wie bei ihrem 27:23-Sieg über die Turnier-Gastgeber am Donnerstag zu sehen war.

Trotz allem war Pekeler nach dem Erfolg über Weißrussland optimistisch: "Wir haben uns heute ein gutes Gefühl fürs Kroatien-Spiel geholt." Gegen die Weißrussen traten die deutschen Handballer wie verwandelt auf im Vergleich zur verkorksten EM-Vorrunde im norwegischen Trondheim. DHB-Vizepräsident Bob Hanning führte das auch auf den 24 Jahre alten Kastening zurück. "Er tut der Mannschaft gut, weil er total unbekümmert ist", sagte Hanning über den Neuling, der erst sein zehntes Länderspiel absolvierte: "Er macht sich viel weniger einen Kopf als ein erfahrener Spieler." Kastening fand es zwar "schön, wenn das so aussieht", versicherte aber, dass er sich akribisch vorbereite - das beschriftete Tape am Handgelenk diente als Beweis.

Nun haben die deutschen Handballer auch während der Vorrunde immer wieder bekräftigt, wie gewissenhaft sie vom Bundestrainer Prokop auf die Partien eingestimmt werden. Aber gegen Weißrussland haben sie erstmals auch alles umgesetzt, was sie sich vorgenommen hatten. In der Abwehr machte jeder einen Schritt mehr und diesen auch noch schneller auf den Gegner zu, dadurch bekam auch Torwart Andreas Wolff wieder häufiger den Ball zu fassen, und so kam die Mannschaft schneller zum Gegenstoß und schneller zu einfachen Toren. "Das ist ja alles kein Hexenwerk", resümierte Hanning, "sondern eine logische Kombination. Und heute ist alles aufgegangen."

Selbst Prokops Personalrochade, den Rückraumspieler Marian Michalcizk durch den defensivstarken Kreisläufer Johannes Golla zu ersetzen, erwies sich als erfolgreich. Nachdem Abwehrchef Hendrik Pekeler schon früh mit zwei Zwei-Minuten-Strafen belastet und vom Platzverweis bedroht war, sprang Golla mit seiner auf 195 Zentimeter verteilten Masse von 110 Kilo in die Bresche.

Prokop setzt gegen Kroatien nicht nur auf Timo Kastenings Können als Balldieb, sondern auch auf dessen Fähigkeiten als Kabinen-DJ. "Die Einstimmung auf die Spiele funktioniert gut", hob er hervor. "Er hat immer passende Lieder, da ist viel Power drin."

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SZ vom 18.01.2020
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