Süddeutsche Zeitung

Handball:Dreisatz des Daseins

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Der TV Großwallstadt hat die Vorbereitung auf die zweite Liga aufgenommen - und die Suche nach einer Identität.

Von Sebastian Leisgang

Ralf Bader war schon einmal da. Es ist zwar ein paar Jahre her, doch Baders Erinnerungen sind nicht verblasst, er weiß noch, wie es ist, in diesen Hallen der zweiten Handball-Bundesliga zu spielen. Es sind Hallen, die wenig gemein haben mit denen in Baunatal und Groß-Bieberau - es sind Bühnen, die sich nach professionellem Sport anfühlen.

Es ist ein lauwarmer Sommerabend in der Aschaffenburger Innenstadt. Tags zuvor hat Bader seine Mannschaft zum Trainingsauftakt um sich versammelt, jetzt sitzt Großwallstadts Trainer in einem Café in Bahnhofsnähe und sagt: "Wir müssen, und das ist mir sehr wichtig dieses Jahr, unsere eigene Identität finden."

Bader, 39, spricht an diesem Abend auch über den Handball selbst. Er erklärt, welches Plus sein Kader im Vergleich zu jener Großwallstädter Mannschaft hat, die vor einem Jahr in die dritte Liga abgestiegen ist; er erklärt auch, warum es so wichtig war, sich in der vergangenen Saison in Baunatal und Groß-Bieberau zu beweisen - im Kern geht es Bader aber eben um eines: Identität.

Es ist ein Thema, das weit über den Sport hinausreicht, ein Lebensthema, wenn man so will. Bader aber bezieht sich auf den Handball, als er sagt: "Wir müssen wissen: Wer sind wir? Jeder Spieler muss für sich wissen: Wer bin ich? Was kann ich? Und wo will ich hin?"

Es klingt wie ein Dreisatz, eine Formel. Für Bader ist es eine Orientierung, eine Leitlinie, die an schlechten Tagen Halt gibt. Er glaubt: "Wenn wir es als Team hinkriegen, eine Identität auszubilden, wird es einfach, schwierige Zeiten zu überstehen. Ich weiß, dass Niederlagen kommen werden, aber dann muss ich Vertrauen haben." Vertrauen zu sich selbst, Vertrauen zu den Antworten auf Baders Fragen.

Die Identität, erklärt Großwallstadts Trainer, entstehe in der Halle, in Erlebnissen auf dem Spielfeld, in Siegen, auch in Niederlagen. Aber: Ist die Identität des TVG nicht längst definiert? Ist nicht klar, wer der TVG ist? Sechsmaliger deutscher Meister, viermaliger Pokalsieger, zweimaliger Europapokalsieger der Landesmeister.

Bader lächelt. Diese Titel, die Höhepunkte der großen Klubhistorie, all das hätten die Hallensprecher bei den Auswärtsspielen in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder aufgezählt, sagt Bader. Was er nicht sagt: dass nicht alle Hallensprecher erwähnten, dass die Mehrzahl aller Erfolge vier Jahrzehnte zurückliegt. "Wir können uns von der Geschichte nichts kaufen", ruft Bader. Das weiß er, das wissen seine Spieler, das wissen die Leute rund um den Verein. Dennoch wirkt das Umfeld des TVG manchmal so, als sei es im Gestern verankert. Für ihn selbst, sagt Bader, seien die Pokale früherer Tage Ansporn und Bürde zugleich: Ansporn, weil die Trophäen zeigen, in welche Dimensionen Großwallstadt einst vorgestoßen ist und wozu es dieser Klub bringen kann. Bürde, weil manche die damaligen Dimensionen noch immer als Maßstab hernehmen.

Bader ist erst seit einem Jahr im Amt; wenn er jetzt aber über den TVG spricht, macht er einen äußerst abgeklärten Eindruck. Zweifel ob der Jugend seiner Mannschaft? Vielleicht sogar Sorgen? Weder noch. Spieler wie Jan-Steffen Redwitz oder Goran Bogunovic brächten durchaus Erfahrung mit, sagt Bader. Auch Mario Stark, Florian Eisenträger und Lars Spieß seien nun Persönlichkeiten. Und: "Ich habe eine Mannschaft, die brennt, weil sehr viele Spieler drin sind, die das Ziel Bundesliga vor Augen haben."

Dass sich der TVG vor zwei Jahren aber schon einmal voller Optimismus ins Abenteuer zweite Liga gestürzt hat und am Ende doch gescheitert ist? Unerheblich. "Es gibt viele Faktoren, die jetzt anders sind", entgegnet Bader und zählt dann auf: Die Mannschaft trainiere beinahe doppelt so oft als unter dem damaligen Coach Florian Bauer, der Kader sei ausgewogener, die alltägliche Trainingsarbeit professioneller, der Trainer ein anderer. Der TVG werde daher vorbereitet sein, wenn es im Oktober losgehe, sagt Bader. Er sagt es mit der Gewissheit eines Mannes, der mit dem Aufstieg den ersten großen Auftrag als Großwallstädter Trainer erfüllt hat.

Vergangenes Jahr, erzählt Ralf Bader, habe er seinen Spielern oft gesagt, sie müssten in Trainingshallen gewinnen, wenn sie in Zukunft nicht mehr in Trainingshallen spielen wollten. Nun wird der TV Großwallstadt wieder größere Spielstätten ansteuern. Zuvor muss er allerdings noch eine Aufgabe meistern: Er muss jene Fragen beantworten, die Bader dieser Tage beschäftigen.

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Quelle:
SZ vom 17.07.2020
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