Süddeutsche Zeitung

Taktik:Der siebte Mann

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Die Möglichkeit, den Torwart durch einen Feldspieler zu ersetzen, hat das Spiel bei der Europameisterschaft entscheidend beeinflusst.

Von Ralf Tögel, Varazdin

Dass das Handballspiel schneller geworden ist, merkt man auch daran, dass sie beim europäischen Verband EHF schon eine Bilanz gezogen haben, noch ehe die Europameisterschaft in Kroatien überhaupt in ihre finale Phase geht. Das gestiegene Tempo liege auch an den jüngsten Regeländerungen, hat der EHF-Präsident Michael Wiederer gerade gesagt und als Beispiel den Tausch des Torwarts für einen weiteren Feldspieler genannt, den sogenannten siebten Mann. Das sei zwar "keine komplette Veränderung der vorherigen Regel", erklärt Wiederer, "eher eine Verbesserung". Aber sie habe "den Blick aufs Spiel vollständig verändert". Der deutsche Bundestrainer Christian Prokop, 39, hält die neue Regelung für "nicht das attraktivste, aber ein taktisch wichtiges Mittel für einen Trainer"; es sei halt eine weitere Möglichkeit, das Spiel zu beeinflussen.

Das ist in der Tat so, seit dem 1. Juli 2016 hat der Weltverband IHF dem Handball eine Handvoll neuer Regeln verpasst, die das Spiel noch rasanter und attraktiver machen sollen. Es gibt die blaue Karte, die einen Bericht der Unparteiischen nach einem groben Foul nach sich zieht. Die Möglichkeit des Zeitspiels ist eingeschränkt worden: Wenn die Referees den Arm zur Warnung gehoben haben, muss der Angriff nach spätestens sechs Pässen abgeschlossen werden. Spieler die sich auf dem Feld behandeln lassen, müssen drei Angriffe aussetzen. Grobe Regelwidrigkeiten in den letzten 30 Sekunden eines Spiels werden mit einer roten Karte und einem Siebenmeter sanktioniert. Diese Regel hat den Deutschen im Spiel gegen Slowenien bekanntlich den Ausgleich und einen wichtigen Punkt für die Hauptrunde beschert.

Aber keine neue Regel hat das Spiel so verändert wie der siebte Feldspieler. Der muss jetzt nicht mehr mit einem andersfarbigen Leibchen als Torwart gekennzeichnet sein, sondern kann beliebig für den Keeper ein- und ausgewechselt werden. Die angreifende Mannschaft kann so eine Unterzahl wegen einer Zeitstrafe ausgleichen, was bei der EM mittlerweile die Regel ist - oder im Angriff eine Überzahl schaffen. Die Olympischen Spiele 2016 in Rio waren der erste Testlauf, bei der WM im vorigen Jahr griffen die Teams bereits deutlich stärker auf diese Möglichkeit zurück, bei der aktuellen EM ist der siebte Mann ein gängiges Hilfsmittel. Prokops Vorgänger Dagur Sigurdsson war einer der ersten, der den Vorteil dieser Überzahl konsequent nutzte: Einen offensiven Deckungsverbund zwang der Isländer einfach mit einem zweiten Kreisläufer wieder in den Rückwärtsgang.

Natürlich hat auch Prokop diese Variante im Repertoire. Im ersten Hauptrundenspiel gegen Tschechien brachte sie im Angriff die Wende. Deutschland lag 16:18 zurück, Torhüter Andreas Wolff verbarrikadierte sein Gehäuse, und die Überzahl im Angriff ermöglichte schnelle Tore - das Spiel war gedreht. In der folgenden Partie gegen Dänemark war es allerdings der Gegner, der daraus den entscheidenden Vorteil zog. In der ersten Halbzeit war dem Olympiasieger beim Sechs-gegen-sechs bloß ein Tor aus dem Positionsspiel gelungen, in der zweiten Halbzeit brachte ihr Trainer Nikolaj Jacobsen den siebten Feldspieler. Der Däne hat diese Variante bei seinem Klub Rhein-Neckar Löwen perfektioniert und den Mannheimern damit zweimal die Meisterschaft beschert. Man braucht allerdings ball- und passsichere Spieler - denn diese Variante birgt das Risiko, dass der Ball nach einem Verlust umgehend im verwaisten Tor landet.

Die Rhein-Neckar Löwen haben den Schweizer Spielmacher Andy Schmid, Dänemark hat den zweimaligen Welthandballer Mikkel Hansen. Der nutzte die zusätzlich geschaffenen Räume für sich selbst zu Toren oder initiierte anderweitig eine Überzahl-Situation. Die deutschen Handballer konnten dies nicht effektiv genug verhindern. Auch der spanische Coach der Mazedonier ist ein Freund der Variante. Raúl González setzte gegen Deutschland von Anfang an auf den siebten Feldspieler, auch er hatte in Routinier Kiril Lazarov, 37, einen Spieler in seinen Reihen, der die richtigen Entscheidungen trifft - seit Lazarov verletzt ist, taumelt die Mannschaft.

Nach wie vor spaltet der siebte Feldspieler die Handball-Welt, viele Bundesliga-Trainer sagen, er verfälsche die Grundidee des Spiels. Gleichwohl zeigt die EM in Kroatien, dass sich die riskante Variante zunehmend durchsetzt. Den Vorwurf, der siebte Mann nehme dem Spiel Attraktivität, muss man nicht teilen. Die Rettungsaktionen der Deutschen Patrick Groetzki und Rune Dahmke, die mit einem Hechtsprung einen Wurf aufs leere Tor noch ablenkten, zählen zu den bislang spektakulärsten Szenen dieses Turniers.

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SZ vom 25.01.2018
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