Süddeutsche Zeitung

Einschnitte im Handball:Drei Drittel à 15 Minuten?

Mit tiefen Eingriffe in den Spielbetrieb versuchen die Handball-Verantwortlichen, eine verkorkste Saison abzuwickeln - es profitiert vor allem der THW Kiel. Manche Ideen sind schon sehr kreativ.

Von Carsten Scheele

Der Fahnenbeauftragte der Stadt Kiel hat am Samstag auf dem Rathausbalkon die Flaggen der Handballer des THW gehisst, und da es in Kiel an Wind selten mangelt, flattern sie nun hin und her. Ein schwacher Trost für den Ausfall der Meisterfeier - ein paar Fahnen können auch schlecht darüber hinwegtrösten, dass der Rathausplatz unter dem Balkon nahezu menschenleer ist. Eine Meistersause wie vor fünf Jahren, als die THW-Handballer mit Meisterschale und Zebra-Maskottchen Hein Daddel vor 12 000 Fans das Erreichte begossen, wird es dieses Jahr nicht geben. So flattern bloß die Fahnen.

Es sind gerade schwere Tage für den Handball, der eine Woche nach dem Abbruch der nationalen Ligen versucht, mit der Realität klarzukommen. Während die Basketballer noch mit sich ringen, ob sie ihre Saison abbrechen oder fortsetzen (Entscheidung an diesem Montag), steht bei den Handballern fest, dass für mehrere Monate kein reguläres Spiel angepfiffen wird. Da klingt es fast schon trotzig, wenn die Rhein-Neckar Löwen nun verkünden, dass die Spieler ab sofort wieder trainieren - in Kleingruppen, ohne Körperkontakt, im Kraftraum mit Mundschutz. Die Spieler seien "Berufssportler, sie müssen sich fit halten", erklärte Trainer Martin Schwalb.

Andernorts werden Entscheidungen getroffen, die vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wären. Mit tiefen Eingriffen in den Spielbetrieb versuchen die Ligaverbände und Föderationen, die Corona-Wirren irgendwie zu bändigen. Es gilt, eine verkorkste Saison abzuwickeln; der Handball-Kalender wird ausgedünnt, wo es nur geht - mit Gewinnern und Verlierern.

Kiel darf ins Final-4 - Flensburg ist raus

Profitiert hat erneut der THW Kiel, der in der Champions League kampflos ins Finalturnier der besten vier Teams versetzt wurde. Achtel- und Viertelfinals sind gestrichen, da nirgends in Europa gespielt werden kann. Beim Finale in Köln, das nach Weihnachten 2020 stattfinden soll, würde der THW auf die anderen Gruppenersten und -zweiten aus Barcelona, Paris und Veszprem treffen - nicht aber auf die SG Flensburg-Handewitt, die sich als Gruppenfünfter eigentlich für das Achtelfinale qualifiziert hatte. Schon beim Meister-Entscheid pro Kiel musste Flensburg als Zweiter zurückstecken, nun also erneut. Das sei "eine Lösung, die wehtut", sagte Geschäftsführer Dierk Schmäschke dem Sport-Informationsdienst, "aber man muss persönliche Befindlichkeiten zurückstellen".

Hart trifft es auch die deutschen Teams im EHF-Pokal, wo das Finalturnier ganz abgesagt wurde. Die Füchse Berlin wären als gesetzter Gastgeber dabei gewesen; für sie platzt damit die letzte Chance, in der kommenden Saison international zu spielen. "Der nächste wirtschaftliche Schaden", urteilte Geschäftsführer Bob Hanning, "aber aufgrund der Situation leider nicht vermeidbar." Laut Schmäschke geht es darum, die "Strukturen des Handballs zu erhalten": Soll ab Herbst geordnet weitergespielt werden, müssen Meister und Europacupteilnehmer bestimmt werden. Und dann, nebenbei, muss geprüft werden, wie alles in den neuen Kalender passt.

Diesbezüglich hat Hanning laut nachgedacht, wie die Belastung der Klubs und Spieler künftig besser gesteuert werden kann. Hanning pflegt sein Image als Querdenker, kürzlich hat er vorgeschlagen, die 18 Bundesliga-Teams an einem Ort zu versammeln und ausstehende Spiele dort nachzuholen, um die Saison zu retten - eine Idee, die letztlich nicht realisiert wurde. Nun hat Hanning angeregt, die Spieldauer eines Handballspiels von 60 Minuten auf drei Drittel à 15 Minuten zu kürzen: "Es gibt nichts, worüber nicht nachgedacht werden kann", sagte er, "du musst kreativ sein." Kürzere Spiele könnten ein Weg sein, um mehr Partien in kürzerer Zeit zu absolvieren - was aber erst in Frage käme, wenn der Saisonstart im September weiter verschoben werden müsste. HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann äußerte sich entsprechend vorsichtig. Kürzere Spielzeiten seien "nur dann möglich, wenn wir Gruppenturniere spielen würden", erklärte Bohmann. Er sieht in Hannings Ideen eher den "letzten Ausweg" statt den "Königsweg".

Bundestrainer Gislason werden alle Spiele gestrichen

Weniger Belastung verspüren bereits die deutschen Nationalspieler - sogar zu wenig, wenn es nach dem neuen Bundestrainer Alfred Gislason geht. Dem werden auch zweieinhalb Monate nach seiner Amtsübernahme sämtliche Pflicht- und Testspiele zusammengestrichen. Nun wurden die Playoffs für die Weltmeisterschaft in Ägypten (14. bis 31. Januar) abgesagt; der EHF-Exekutivausschuss vergibt die WM-Startplätze der europäischen Teams stattdessen auf Grundlage der EM-Platzierungen. Hier profitiert Deutschland als EM-Fünfter, ist also fix in Ägypten dabei, ebenso das Frauen-Nationalteam im Dezember bei der EM in Dänemark und Norwegen.

Das Turnier in Berlin, bei dem sich die Männer noch für die Sommerspiele in Tokio qualifizieren wollen, wurde indes erneut verschoben: auf den 12.

bis 14. März 2021. Gislason hatte sich all dies "anders erträumt", es könnte sogar passieren, dass der Bundestrainer die Mannschaft fast ohne Matchpraxis zur WM führen wird. Seit der Isländer im Amt ist, ist er fast zur Untätigkeit verdammt - und ob ab Herbst 2020 im mutmaßlich proppevollen neuen Spielplan noch Platz für eine nennenswerte Anzahl an Testspielen fürs DHB-Team bleibt? Gislason hat schon jetzt gelernt, kurzfristig zu planen. Denn: "Keiner weiß, was noch auf uns zukommt."

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SZ vom 27.04.2020/ebc
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