Handball:Bis zur letzten Sirene

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(Foto: Marius Becker/dpa)

Mit gebremster Freude hat Alfred Gislason den Kieler Gewinn der Champions League verfolgt. Denn die Nationalspieler Pekeler, Wiencek und Weinhold, die den felsenfesten THW-Abwehrblock bilden, haben dem Bundestrainer für die WM in Ägypten abgesagt.

Von Ulrich Hartmann, Köln

Alfred Gislason ist als Isländer zwar maritim geprägt, aber trotzdem nicht nah am Wasser gebaut. Zu Beginn dieser Woche hat man sich den Handball-Bundestrainer dennoch mit feuchten Augen vorstellen können. Dem 61-Jährigen mit Wahlheimat Sachsen-Anhalt ist vor dem Fernseher noch einmal schmerzlich bewusst geworden, welche Qualitäten seiner Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft im Januar in Ägypten fehlen werden.

Gislasons Wehmut bei der Fernansicht des Champions-League-Finalturniers in Köln ging mit einem emotionalen Highlight für den deutschen Vereinshandball einher. Denn der Klub, den er viele Jahre lang erfolgreich trainiert hatte, der THW Kiel, gewann am Dienstagabend nach einem spektakulären 33:28 (19:16) gegen den FC Barcelona zum vierten Mal in seiner Klubhistorie die Champions League. Angeführt vom überragenden Keeper Niklas Landin gelang den Kielern der erste Triumph in der Königsklasse seit acht Jahren. Barcelona hatte zuvor im Halbfinale die ebenfalls hochkarätige Auswahl von Paris Saint-Germain noch deutlich besiegt (37:32).

Doch Rückschlüsse von der Qualität des THW auf die deutsche Nationalmannschaft verbieten sich derzeit. Denn mit den Kreisläufern Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek sowie dem Rückraumspieler Steffen Weinhold hatten die drei herausragenden Kieler Abwehrhelden ihre Teilnahme an der WM bereits Mitte Dezember abgesagt. Die Begründungen, die von Gislason allesamt akzeptiert wurden, leiteten sich aus den Schlagworten "Belastung", "Corona" und "Familie" ab. Am Halbfinal-Montag bildete das Kieler Trio nicht nur den granitharten Innenblock in der THW-Deckung, Pekeler war zudem mit acht Treffern Kiels erfolgreichster Torschütze. Und Wiencek (zwei Tore) demonstrierte eindrucksvoll seine Qualitäten als kompromissloser Lückenreißer in der gegnerischen Abwehr.

Doch nicht nur der Kieler Block wird in Ägypten fehlen. In Finn Lemke von der MT Melsungen verzichtet ein weiterer Abwehrhüne auf die WM. Und am Dienstag wurde bekannt, dass auch der Mannheimer Kreisläufer Jannik Kohlbacher wegen einer Ellbogenverletzung verhindert ist - es ist bereits die neunte Absage eines Stammspielers, die Gislason erreicht hat. Der Trainer, der in sein erstes großes Turnier mit der Nationalmannschaft geht, hat somit weder einen abgezockten Mittelblocker noch einen routinierten Kreisläufer im Kader. Gislason nominierte für diese Doppelaufgabe Johannes Golla (Flensburg) und Sebastian Firnhaber (Erlangen), für Kohlbacher wurde Moritz Preuß vom SC Magdeburg berufen. Von einer ursprünglich erträumten Halbfinal-Teilnahme bei der WM, das räumt Gislason bereits ein, dürfe jetzt niemand mehr zwingend ausgehen.

Zunächst aber stand Köln im Fokus. Eine leere Halle, in der sonst 20 000 Besucher lärmen. "Wir sind froh, hier den deutschen Handball repräsentieren zu können", sagte Kiels Trainer Filip Jicha am Rande des Champions-League-Finalturniers. Es war Ausdruck seiner Erleichterung, dass Kiel in Köln bis zur letzten Sirene dabei sein durfte. Mit dem Trio Pekeler, Weinhold und Wiencek das ein vermeintlich aussichtsloses Unterfangen gegen Veszprem am Ende doch unter seine Kontrolle brachte. Und dies in angespannter Personallage, da neben dem erneut starken dänischen Torwart Niklas Landin gerade mal neun Feldspielern zu Verfügung standen.

Sie alle zeigten im Halbfinale eine Vorstellung, die zur weiteren Legendenbildung beim deutschen Rekordmeister beitragen dürfte. Am Ende der ersten Halbzeit lagen die Kieler sogar mit sieben Toren vorne. Dann kam ein Bruch in ihr Spiel, plötzlich lagen sie 24:28 hinten, kämpften sich aber wieder heran und verkrafteten sogar eine umstrittene rote Karte gegen Patrick Wiencek, als der Videobeweis gegen ihn ausgelegt wurde.

Mit Robustheit und Leidenschaft hielten sie sich im Spiel, mit Tugenden, die das deutsche Nationalteam in wenigen Wochen gut gebrauchen könnte. Das felsenfeste Kieler Abwehrtrio mit der Unterstützung internationaler Stars wie dem Norweger Sander Sagosen (fünf Tore) und dem Kroaten Domagoj Duvniak (vier) zeigte gegen Veszprem jene Weltklasse, die in Ägypten gefordert sein wird. Doch nun hilft kein Lamentieren mehr. Die Entscheidung ist gefallen. Die Kieler Helden haben ihrem Lehrmeister Gislason abgesagt, unter dessen Anleitung der THW in den Jahren 2010 und 2012 die Champions League gewann.

Für Gislason gilt es nun, in Rekordzeit ein schlagkräftiges Team zu bilden. Am 3. Januar versammelt er seinen Kader in Neuss, vom 14. bis 31. Januar ist die WM angesetzt. Zur Vorbereitung dienen zwei Partien in der EM-Qualifikation gegen Österreich, die ersten WM-Spiele gegen Uruguay und die Kapverden sollten dem Einspielen dienen. Dritter Gruppengegner ist Ungarn. In Ägypten wird Gislason sicher auch Sandor Sagosen begegnen. Am Montagabend in Köln stellte der Rückraumschütze fest: "Das Champions-League-Finale ist das Beste, was der Klubhandball bieten kann." In Kürze wechselt Sagosen das Trikot, für den Norweger steht gleich der nächste Höhepunkt an. Er wird zur WM nach Ägypten reisen.

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