Handball:Alles weggeworfen

Die erfolgreiche Ära von Dagur Sigurdsson endet mit der "größten Enttäuschung in meiner Zeit". Sogar der Bundestrainer ist Teil dieses rätselhaften Kollektiv-Blackouts der Europameister im 20:21 verlorenen WM-Achtelfinale gegen Katar.

Von Joachim Mölter, Paris

Noch lange, nachdem die 10 209 Zuschauer den Palais Omnisports von Paris verlassen hatten an diesem Sonntagabend, standen drei Männer unten auf dem blauen Spielfeld und redeten, mit gesenkten Köpfen. Der Präsident Andreas Michelmann, der Vizepräsident Bob Hanning und der Torwart Andreas Wolff rätselten, wie das hatte geschehen können: Wie die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) dieses Spiel gegen Katar hatte verlieren können, 20:21 (10:9), wie sie hatte ausscheiden können im WM-Achtelfinale, das doch nur als Durchgangsstation gedacht war auf dem Weg zu einer weiteren Medaille in der Neuzeit des deutschen Handballs nach EM-Gold und Olympia-Bronze im vorigen Jahr. Was Wolff nachher als Ergebnis der Beratungen präsentierte, war nur eine Vermutung: "Es ist vielleicht so, dass wir dieses Spiel zu leicht genommen haben."

Wolff hatte das sicher nicht getan, ihm war nicht vorzuwerfen, dass die deutschen Handballer am Montagvormittag vorzeitig von der WM in Frankreich heimreisen mussten. Der 25-Jährige vom THW Kiel hatte sich im Turnierverlauf gesteigert und gegen Katar fast die Hälfte aller Würfe abgewehrt, was überragend ist. Sein Gegenüber, der gebürtige Bosnier Danijel Saric, stand ihm freilich kaum nach. "Wir haben vergessen, dass die Katarer einen absoluten Weltklasse-Mann hinten drin haben, mit dem man sich vielleicht gedanklich beschäftigen müsste", kritisierte Wolff indirekt die Einstellung seiner Vorderleute. Damit kam er einer Erklärung ziemlich nahe für das, was der scheidende Bundestrainer Dagur Sigurdsson später als "sehr großen Schock für uns alle" beschrieb und als "größte Enttäuschung in meiner Zeit": Die Spieler waren mit dem Kopf nicht bei der Sache. Und die Trainer auch nicht.

IHF Men?s Handball World Championship 2017, Paris, France - 22 Jan 2017

Abschiedsschmerz: Der Berliner Paul Drux verlässt vor den feiernden Spielern Katars das Parkett.

(Foto: Tesson/EPA/REX/Shutterstock)

Beim überzeugenden 28:21 über Kroatien im letzten Vorrundenspiel am Freitag hatte die Mannschaft an ihren großen Auftritte im vorigen Jahr erinnert, an das grandiose EM-Finale gegen Spanien (24:17), das dramatische Olympia-Halbfinale gegen Frankreich (28:29). "Nach dem Kroatien-Spiel haben viele gedacht, jetzt haben wir die Chance aufs Halbfinale", sagte Sigurdsson. In der Runde der letzten Vier wähnten sie eine Chance zur Olympia-Revanche gegen den WM-Gastgeber und Titelverteidiger Frankreich; dass es vorher ein Viertelfinale gegen Slowenien gegeben hätte, hatten die DHB-Akteure offenbar schon abgehakt oder übersehen oder vergessen. "Vielleicht waren wir mit dem Kopf zu weit", mutmaßte Sigurdsson, "und ich war dabei - da waren alle Mann an Bord."

Spätestens beim 17:13 eine Viertelstunde vor Schluss schalteten die deutschen Handballer gedanklich offenbar ab, was zum kollektiven Blackout führte. "Wir hatten alles im Griff", erinnerte sich der vierfache Torschütze Patrick Groetzki, "aber danach haben wir viel zu lange kein Tor geworfen." Nämlich sechs Minuten lang, bis zum 17:17, bis das Verhängnis seinen Lauf nahm und nicht mehr zu stoppen war. Und das hatten sich die DHB-Akteure selbst zuzuschreiben. Katar war ja schwächer besetzt als bei der WM 2015, als es gegen die Deutschen 26:24 gewann, und bei Olympia 2016, als es ihnen 22:34 unterlag, jeweils im Viertelfinale. Im Grunde hatten sie nur den Rückraumspieler Rafael Capote (der neun Tore erzielte) und den Torwart Saric.

Germany v Qatar - 25th IHF Men's World Championship 2017 Round of 16

Bundestrainer Dagur Sigurdsson kommentiert letztmals ein Spiel der deutschen Handballer.

(Foto: Alex Grimm/Bongarts/Getty Images)

Der habe seinen Spielern irgendwann den Zahn gezogen, glaubte Sigurdsson: "Sie haben sich nicht mehr getraut, aufs Tor zu gehen, haben den Mut verloren. Das Tempo war weg, das Spiel zu statisch, der Ball lief nicht mehr gut." Holger Glandorf, der reaktivierte Weltmeister von 2007, der drei der letzten fünf Tore für das DHB-Team erzielte, formulierte es so: "Wir haben die Bälle einfach weggeschmissen."

Sigurdsson sprach auch davon, dass seine Mannschaft "zu wenig handballerische Lösungen gehabt" habe. Aber die hatte immer er ihnen an die Hand gegeben; in den zweieinhalb Jahren seiner Amtszeit schien der 43 Jahre alte Isländer stets einen Plan B, C, D, E und F parat zu haben. Doch an diesem Sonntag verfolgte er den Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten tatenlos und wie gelähmt an der Seitenlinie. Er nahm nicht einmal Auszeiten, um sein Team neu zu sortieren. "Ich hätte eine nehmen können", räumte er ein, "aber dann hätten auch die Katarer die Möglichkeit gehabt, ihre Abwehr neu zu organisieren." Es war eine seltsam hilflose Abschiedsvorstellung, die Dagur Sigurdsson da gab. Seine fehlende Körperspannung übertrug sich auf seine Spieler.

Andreas Wolff brachte auch noch die Schiedsrichter ins Spiel, die am Ende einige strittige Entscheidungen zu Ungunsten des DHB-Teams trafen. "Es gab zwei, drei Situationen, wo wir Siebenmeter kriegen müssen", sagte Sigurdsson, "aber das war nicht die entscheidende Sache." Vizepräsident Hanning sagte: "Wir können uns über die Schiedsrichter ärgern, aber dahinter kann man sich nicht verstecken: Der Ausgang des Spiels lag in unseren Händen." Der am Sonntag fahrige Spielmacher Steffen Fäth beendete diese Diskussion: "Über die Schiedsrichter brauchen wir bei unseren Fehlern nicht zu reden."

Was Deutschland verpasst

WM-Viertelfinale am Dienstag

Norwegen - Ungarn (in Albertville) 17.00

Frankreich - Schweden (in Lille) 19.00

Slowenien - Katar (in Paris) 20.45

Spanien - Kroatien (in Montpellier) 20.45

Der Schmerz über die Niederlage und das WM-Aus saß, es war viel von "Leere" und "geplatzten Träumen" die Rede. Nur Andreas Wolff blickte kämpferisch in die Zukunft: "In zwei Jahren haben wir wieder die Chance, Weltmeister zu werden, und dann haben wir das Publikum im Rücken." Dann findet das Turnier nämlich in Deutschland und in Dänemark statt, den beiden Ländern, deren Teams am Sonntag so überraschend ausgeschieden sind.

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