Hamburger SV:Tiki-Taka auf hanseatisch

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  • Nach dem 3:1-Sieg gegen den VfL Wolfsburg glaubt der HSV mehr denn je an den Verbleib in der Bundesliga.
  • Das hat vor allem mit dem Trainer Christian Titz zu tun. Der Ex-Trainer der zweiten Mannschaft hat neue Methoden im Team etabliert.
  • Auch scheint er auf das richtige Personal zu setzen. Nun spielt der HSV noch gegen Frankfurt und Gladbach.

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Niemand weiß, wie man Hoffnung baut, sie ist ein immaterielles Gut. Flüchtig, ätherisch und, einmal vorhanden, so einfach zu zerstören. Beim Hamburger SV haben sie einen 47 Jahre alten Mannheimer gefunden, der Hoffnung scheinbar mühelos herzustellen vermag. Sein Name: Christian Titz.

Als Titz am 12. März zum Cheftrainer befördert wurde, vorerst bis zum Saisonende, war der HSV Vorletzter und lag sieben Punkte hinter dem Relegationsplatz 16, weil er nach den Auftakterfolgen gegen Köln und Augsburg nur zwei weitere Siege erringen konnte. Am Samstag holte Titz beim VfL Wolfsburg in seinem sechsten Spiel den dritten Sieg. Sein Team gewann 3:1 und rückte damit bei zwei verbleibenden Partien bis auf zwei Punkte an besagten Relegationsplatz heran. "Wir sind noch lange nicht tot", rief Lewis Holtby, der nicht nur der Schütze des Treffers zum 2:0 (44.) war, sondern auch die Erweckung aus dem ewigen Schlaf personifiziert wie kein zweiter HSV-Profi. Seit Äonen gehört der HSV der Bundesliga an, und wer weiß, vielleicht bleibt es so, womöglich auf Kosten des extrem gefährdeten VfL. "Ich weiß, das klingt hart. Aber es ist die Wahrheit. Wir spielen zum ersten Mal seit vier Jahren wieder Fußball", sagt Holtby.

"Wenn du mir Vertrauen gibst und Fußball spielen willst, zahle ich das zurück", sagt Holtby

Hart dürfte das vor allem in den Ohren der HSV-Trainer dieser vier Jahre klingen: Bernd Hollerbach, Markus Gisdol, Peter Knäbel, Wolfsburgs aktueller Trainer Bruno Labbadia, Joe Zinnbauer, Mirko Slomka, bei denen sich Titz umgehend entschuldigte. "Das war nicht angemessen und überzogen. Es war mir unangenehm für die Kollegen", sagte Titz, als er Holtbys Einschätzung am späten Samstagabend im "Sportstudio" des ZDF hörte. Im Moment aber hat Holtby alle Argumente auf seiner Seite. Sein Treffer gegen Wolfsburg - ein feiner Kopfball nach Flanke von Tatsuya Ito vor dem Pausenpfiff - war sein viertes Tor unter Titz. "Ich habe immer gesagt: Wenn du mir Vertrauen gibst und Fußball spielen willst, zahle ich das zurück."

Spielt Fußball - das klingt so einfach, dass man meinen könnte, Titz verzichte auf die Errungenschaften der Moderne. Doch das Gegenteil ist der Fall. Am Samstag, als seine Spieler hinter seinem Rücken mit durchgedrückter Wirbelsäule aus der Kabine entschwanden, plauderte er in ruhigen Worten über die "Zielgespräche", die er seit Amtsantritt geführt habe. Zusammen mit dem Trainerteam rede er mit jedem Profi darüber, auf welchen Positionen dieser seine Stärken einbringen könne. Auf Tablets würden dazu Videoszenen gezeigt, "auch solche, wo es vielleicht nicht so gut lief", um zu erläutern: "Was kann man da noch besser machen?"

Die HSV-Spieler "können jederzeit zu unseren Analysten rein" und auch kleinste Details besprechen. Denn nicht nur die Spiele, auch jedes Training wird aufgezeichnet, seziert, aufbereitet. Das alles ist die Grundlage für ein Ballbesitzspiel, das Titz für nicht verhandelbar hält: "Wenn ich den Ball habe, kann ich das Spiel kontrollieren. Sonst hat der Gegner die Entscheidungsgewalt. Wir wollen die Aktionen bestimmen." Auch Pressingelemente kommen zum Tragen. Doch wenn man alles richtig versteht, dann hat Titz eines nicht vergessen: dass Fußball essenziell ein Spiel ist.

Nur so lässt sich die schmetterlingshafte Leichtigkeit erklären, mit der die Spieler des HSV heute den Existenzkampf führen, der lange auf ihren Flügeln zu lasten schien wie ein nicht zu stemmendes Gewicht. "Ich bin stolz, wie wir den Ball haben laufen lassen, wie wir teilweise schon Tiki-Taka gespielt haben", bekannte Holtby. Von der Last von einst war zumindest optisch nicht mehr viel zu erkennen. Nicht einmal, nachdem Josip Brekalo (78.) per Freistoß das VfL-Anschlusstor erzielen konnte, zu einem Zeitpunkt, zu dem zahlreiche Anhänger der Wolfsburger bereits enttäuscht das Weite gesucht hatten.

Der HSV blieb seinen Grundsätzen treu und wurde mit dem zweiten Foulelfmeter der Partie (90.) belohnt, den Gian-Luca Waldschmidt im Nachschuss verwertete. Den ersten Strafstoß der Partie hatte Bobby Wood (43.) verwandelt, was eine Geschichte für sich war, es war sein erster Treffer seit dem zweiten Spieltag. Aufregender freilich war, wie Stürmer Ito den Strafstoß herausgeholt hatte - und dafür von den Fans mit einem "Ito, Ito, Ito ..."-Stakkato gefeiert wurde.

"Ito ist eine Waffe", flüsterte Titz über den 20 Jahre alten Japaner, der vom Fachmagazin Kicker mit einer Körpergröße von 1,63 Metern geführt wird und somit der kleinste Bundesligaspieler seit Dieter Kurrat sein dürfte; der spielte von 1956 bis 1974 bei Borussia Dortmund. Diesen Ito hatten Gisdol und Hollerbach verschmäht, weil sie ihre Mannschaften so tief operieren ließen, dass der hochbegabte Japaner nichts von dem ausspielen konnte, was ihn erhaben wirken lässt: Er hat "einen tiefen Körperschwerpunkt und einen enorm explosiven Antritt"; entscheidend aber sei, dass Ito "mit dem ersten Kontakt den Ball eng führen und die Richtung gut verändern" kann, sagt Titz. Er beschwört Fouls herauf, und "in der Box sind das halt Elfmeter". So wie bei der Szene vor dem 1:0, als Wolfsburgs Mittelfeldspieler Josuha Guilavogui das Bein nicht schnell genug wegbekam - und Ito stürzte.

Aber nicht nur Ito lebt auf. Titz hat bislang unbekannte Spieler wie den defensiven Mittelfeldspieler Matti Steinmann integriert, den er aus der Regionalligamannschaft kennt; Titz hatte bis März erfolgreich die HSV-Reserve trainiert. Überdies hat er Aaron Hunt entstaubt, indem er ihn näher am gegnerischen Strafraum operieren lässt, wo er Risiken eingehen darf, aus denen Chancen entstehen, die dem HSV nun eben Hoffnung bedeuten.

Am kommenden Wochenende muss der HSV nach Frankfurt, am letzten Spieltag gastiert Borussia Mönchengladbach in der Hansestadt. Die Euphorie, die in Hamburg grassiert, fürchtet Titz nicht. Seine Spieler seien "sehr fokussiert, und jetzt entwickelt sich halt dieses Selbstwertgefühl, das uns guttut. Wir haben eine Chance bekommen", sagte Titz. "Ich glaube zu hundert Prozent an die Rettung", sagte wiederum Holtby. Sollte sie verfehlt werden, dürfte der HSV eine Rückkehr in die Bundesliga mit Titz anpeilen. "Ich wäre nicht abgeneigt", sagte er im ZDF.

© SZ vom 30.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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