Hamburger SV im Abstiegskampf:Angst in der Box

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Bei der Niederlage gegen den SC Freiburg zeigt sich, wie wenig der Hamburger SV mit der prekären Lage im Tabellenkeller der Fußball-Bundesliga umgehen kann. Kein Mannschaftsteil ist derzeit gut genug für die erste Liga. Manch einer spricht dem Klub sogar ab, überhaupt über eine Fußballmannschaft zu verfügen.

Jörg Marwedel, Hamburg

Hermann Rieger hat schon die Muskeln von Kevin Keegan, Horst Hrubesch und Felix Magath geknetet. Der Physiotherapeut war in den besten Jahren des Hamburger SV dabei, aber auch in vielen schwierigen Situationen. Das bleibt nicht aus, wenn man 27 Jahre das Herz hinter der Mannschaft war. Inzwischen ist Rieger, 70, krank, aber immer noch der glühendste HSV-Fan.

Blick nach unten: Mladen Petric und sein Hamburger SV nach den Spiel gegen den SC Freiburg. (Foto: dpa)

Wer ihn nach der 1:3-Heimniederlage gegen den SC Freiburg sprach, hatte den Eindruck, er sei auf einer Trauerfeier gewesen. "Das", sprach er mit Tränen in den Augen, "war eine Beerdigung." Das sei keine Fußballmannschaft mehr. Er habe Angst, dass der HSV zum ersten Mal in seiner Geschichte absteigen könnte.

Angst, sagte David Jarolim nach seinem 250. Bundesligaspiel für den HSV ein paar Schritte neben dem traurigen Rieger, "können wir nicht gebrauchen". Die Sorge um den einzigen Verein, der in allen 49 Bundesliga-Spielzeiten dabei war, ist aber überall zu spüren. Die Mannschaft ist mit nur zwei Siegen in 14 Spielen das schlechteste Heimteam der Liga und fuhr nach der Winterpause im Volkspark 3:15 Tore ein. Wer bei diesen Partien dabei war, kann derzeit weder Abwehr noch Mittelfeld noch Angriff das Prädikat "Erste Liga" einräumen.

Der HSV, der nach einem Zwischenhoch mit neun Spielen ohne Niederlage schon wieder heimlich (Trainer Thorsten Fink) oder weniger heimlich (Dennis Aogo) von der Europa League träumte, sei zwar kein Abstiegskandidat, aber "im Abstiegskampf angekommen". Das müsse man jetzt so sagen, erläuterte Fink erstmals.

Was er lieber nicht sagte: Die Hamburger besitzen gegenüber den bescheideneren Konkurrenten aus Freiburg oder Augsburg einen entscheidenden Nachteil. "Wir sind ein Team", sagte Freiburgs Schlussmann Oliver Baumann. Was im Umkehrschluss bedeutete: Der HSV ist keines.

Bei den Freiburgern ist fast die Hälfte der Spieler im heimischen Fußball-Internat aufgewachsen, der HSV dagegen besteht aus einem Sammelsurium von Profis, die entweder begrenztes Potential haben (Robert Tesche, Slobodan Rajkovic), träge geworden sind (Mladen Petric) oder über eine große Karriere im Moment nur phantasieren (Jeffrey Bruma, Gökhan Töre).

Wie wenig der HSV mit der erneut "prekären Situation" (Fink) umgehen kann, wurde besonders deutlich, als sogenannte hundertprozentige Chancen ausgelassen wurden: Erst verstolperte Tolgay Arslan eine Vorlage des auch schon stolpernden Petric, der Ball kullerte aus drei Metern neben das Tor (3.). Dann hätte Petric eine Flanke von Heung-Min Son nur noch einzuschieben brauchen, er war dabei aber so unkonzentriert wie in allen anderen Situationen (59.). Es wäre das 1:2 gewesen, aber die Wende in diesem Spiel hätte das wohl dennoch kaum bedeutet. Denn die Freiburger, so formulierte es Torwart Baumann, "klauten" dem verunsicherten HSV immer wieder Bälle.

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Und sie nutzten dessen Schwächen gnadenlos aus. Das 0:1 und das 0:3 waren das 19. und 20. Gegentor nach einer Standard-Situation. Johannes Flums Schuss in der 20. Minute kam nach einem von Jarolim abgefälschten Freistoß zustande und wurde von Petrics Schienbein über die Linie geleitet. Beim 0:3 spielte Julian Schuster Kapitän Cedric Makiadi flach an (72.), der als Makiadi-Bewacher eingeteilte Petric war ebenso wenig zur Stelle wie Dennis Diekmeier beim 0:2 durch seinen Gegenspieler Daniel Caligiuri (44.). Wobei eigentlich Bruma die weite Flanke von Mujdza schon aus dem Strafraum hätte köpfeln müssen.

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Thorsten Fink brachte das Dilemma später auf den Punkt: "Wir müssen in der Box präsenter sein, vorne wie hinten", sagte er. Also im Strafraum, dort, wo normalerweise die Entscheidungen fallen. Das Versagen der neu formierten HSV-Mannschaft lässt aber auch neue Fragen im Hinblick auf Sportchef Frank Arnesen und Trainer Fink aufkommen. War es doch ein Fehler, dass Arnesen vor allem bei seinem altem Klub FC Chelsea nach Talenten gesucht hat?

Die Chelsea-Abwehrreihe Michael Mancienne, Bruma und Rajkovic war jedenfalls nicht bundesligatauglich. Der mit viel Vorschusslorbeeren empfangene Fink hat den HSV erst von Rang 18 ins Tabellen-Mittelfeld geführt und weiß bislang nicht, wie er die entgegengesetzte Bewegung stoppen kann. Sein größter Fehler: Er lässt die Elf taktisch wie eine Spitzenmannschaft spielen, ohne die löchrige Abwehr genügend zu sichern.

Jetzt denkt Fink vor dem Auswärtsspiel beim VfL Wolfsburg an ein Mini-Trainingslager. Auch der HSV-Psychologe Thorsten Weidig könnte bald Besuch von dem einen oder anderen Spieler bekommen. Denn, so Sportchef Arnesen: "Die mentale Seite ist im Profisport sehr wichtig."

Immerhin, Thorsten Fink hat die neue Lage offenbar angenommen: "Kondition war schon als Spieler meine Stärke", bekräftigte er, "das werde ich jetzt auch als Trainer zeigen." Zumindest einer scheint beim Hamburger SV immer noch über genügend Selbstbewusstsein zu verfügen.

© SZ vom 19.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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